Geschichtlicher Überblick
Seit beinahe 200 Jahren wird das Gebiet des heutigen Ruhrgebiets durch zwei
Landeskirchen vertreten, der Evangelischen
Kirche im Rheinland sowie der Evangelischen
Kirche von Westfalen. Die beiden evangelischen Landeskirchen gehen in ihrer
heutigen Gestalt zurück auf die Bildung der preußischen Provinzen
im Jahr 1815. Mit der staatlichen Vereinheitlichung durch Preußen endete
die territoriale Vielfalt, die das Gebiet des heutigen Ruhrgebiets seit der
Reformation bestimmt hatte. Die einzelnen Territorien waren in der Regel konfessionelle
Mischgebiete, wobei im östlichen Ruhrgebiet die Mehrheit der Bevölkerung
evangelisch war. Die konfessionellen Unterschiede blieben in der Phase der Industrialisierung
zunächst bestehen. Erst langsam haben sich die Verhältnisse verändert.
Industrialisierung
Das enorme Bevölkerungswachstum im Zuge des Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesses
stellte die Kirchen vor eine fast unlösbare Herausforderung. Die Frage,
wie die kirchliche Versorgung gesichert werden konnte, verdrängte dabei
zunächst fast alle anderen anstehenden Probleme. Es wurden neue Gemeinden
gegründet, Großgemeinden geteilt, neue Kirchenkreise entstanden.
Mit einem großen finanziellen Aufwand errichtete man Kirchen, Gemeindehäuser,
Kindergärten, Krankenhäuser. Zuwendungen erhielt man dabei von der
örtlichen Industrie, insbesondere von den Zechen. Das kirchliche Leben
konzentrierte sich auf die Gemeinde: der Besuch des Gottesdienstes, die Amtshandlungen
wie Taufe, Konfirmation, Heirat und Beerdigung. Geprägt wurde das Gemeindeleben
durch die Region, die Arbeit, aber auch durch das nicht immer konfliktfreie
Zusammenleben mit Katholiken oder Sozialdemokraten und nicht zuletzt durch die
starken Einwanderungen ins Ruhrgebiet, die Menschen unterschiedlicher religiöser
Erfahrungen zusammenbrachte. Dem Protestantismus gelang es kaum ein eigenes
identifizierbares protestantisches Milieu herauszubilden. Kirche und Gemeinde
im Ruhrgebiet sind, im Vergleich mit anderen Gebieten, weitgehend traditionslos.
So finden sich nebeneinander verschiedene Gemeindetypen (Günter Brakelmann).
Man kann einen traditionalen Typ des Gemeindelebens entdecken, in dem die Erziehung
zu aufrechter Christlichkeit im Vordergrund stand, in dem die Orientierung an
der Obrigkeit zur obersten Maxime gemacht wurde. Daneben gab es eine wachsende
Zahl von Gemeinden, die sich den sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen
der Menschen in der Region zuwandten. Viele dieser Gemeinden waren monarchistisch
und vaterlandstreu, zugleich vertraten sie ein sozialpolitisches Reformprogramm,
um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung zu verbessern. Nur
wenige Gemeinden öffneten sich dagegen liberalen Reformvorstellungen. Neben
dem Gemeindeleben spielte das kirchliche Vereinswesen eine wichtige Rolle, auch
wenn es zahlenmäßig nicht den erhofften Erfolg hatte. Dies gilt auch
für die Evangelischen Arbeitervereine. Der erste Evangelische Arbeiterverein
wurde 1882 in Gelsenkirchen gegründet, von dort aus breitete sich die Bewegung
weit über das Ruhrgebiet hinaus aus.
Nationalsozialismus und Nachkriegszeit
1933 bejahte die Mehrheit den Machtantritt Hitlers, erst die Kirchenpolitik
der Nationalsozialisten trieb viele Protestanten dann in die Opposition, zur
Bekennenden Kirche. Dortmund, aber auch Essen, bildeten Zentren der Bekennenden
Kirche über die Region hinaus. Ludwig Steil, Pfarrer in Holsterhausen,
starb 1945 im Konzentrationslager Dachau, er ist der Märtyrer der Bekennenden
Kirche im Ruhrgebiet
In den 50er und 60er Jahren kam es zu einem starken Ausbau der kirchlichen Strukturen
im Ruhrgebiet In dieser Phase wurden funktionale Kirchen- und Gemeindehäuser,
Gemeindezentren etc. gebaut. Neben die Gemeindearbeit traten weitere Arbeitsfelder,
die sich gerade mit den spezifischen Bedingungen der Industrieregion beschäftigten:
Zu nennen sind neben der Gemeinsamen Sozialarbeit der Konfessionen im Bergbau
(GSA) noch die Einrichtung besonderer Sozialpfarrämter sowie die sozial-
und gesellschaftspolitische Arbeit des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt
(KDA). Waren es zunächst Fragen der Arbeitsbedingungen, der Humanisierung
der Arbeitswelt so trat später das drängende Problem der Arbeitslosigkeit
hinzu. Die Einrichtung eines Lehrstuhls
für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelischen Fakultät
der Ruhr-Universität Bochum (1972), der einen Dialog zwischen Theologie
und dem industriell geprägten Ruhrgebiet fördern soll, dokumentiert
wie sich Kirche und Theologie der Region geöffnet hat und sich ihr verbunden
fühlt
Heute gibt es in vielen Gemeinden neben den klassischen Arbeitsfeldern eine
intensive Sozialarbeit, es werden Arbeitslosenzentren unterstützt Arbeitsprojekte
initiiert und gefördert etc. Die Kirchen machen in vielen Innenstädten
eine intensive Kultur- und Bildungsarbeit, sie erproben dort neue Formen der
Gemeindearbeit Viele Gemeinden geben sich ein unverwechselbares Profil, sie
fördern besondere Formen der Jugendarbeit, der Arbeit mit Gospelchören
etc.
Krisenstimmung
Die Krise von Theologie und Kirche ist auch im Ruhrgebiet spürbar. So ging
der Anteil der Evangelischen in Dortmund von weit über 70 % am Anfang des
19. Jahrhunderts kontinuierlich zurück (1950: 55,2 %; 1980: 50 %) bis auf
heute 37,4 %. Ähnliches gilt für Oberhausen oder Essen, dort ist der
Anteil der Protestanten seit 1970 von 40,6 % (Essen) bzw. 37,5 % (Oberhausen)
auf 32,2 % bzw. 30,3 % (1997) gesunken. Schaut man sich die absoluten Zahlen
an, auch im Vergleich zu den im Ruhrgebiet langsamer sinkenden Zahlen der Katholiken,
so wird die Dramatik der Entwicklung deutlich. Freilich zeigen weitere Indikatoren
für die Beurteilung von Kirchlichkeit ein differenzierteres Bild, so steht
beispielsweise einem stetig abnehmenden Gottesdienstbesuch heute eine konstante
Beteiligung am Abendmahl gegenüber (Essen und Oberhausen).
Die gegenwärtige Diskussion ist bestimmt von Strukturdebatten und Sparvorschlägen.
Die Fragen, ob Gemeinden oder gar Kirchenkreise zusammengelegt werden, ob man
Arbeitsfelder wie die kirchliche Sozial- oder Jugendarbeit die Frauenarbeit
das vielfältige Beratungswesen verkleinert oder gar ganz aufgeben muss,
stehen im Vordergrund.
Von Norbert Friedrich
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