Leitartikel der Jahresausgabe 2003
Anstaltskirche – Vereinskirche – Volkskirche – Projektkirche:
Transformationsprozesse des Ruhrgebietsprotestantismus seit der Industrialisierung
Traugott Jähnichen
Einleitung
Der Ruhrgebietsprotestantismus hat in der Zeit zwischen der
beginnenden Industrialisierung seit den 1850er Jahren bis zur Gegenwart tiefgreifende
Wandlungen erfahren. In einem ersten Schritt entwickelt sich die evangelische
Kirche von einer behördlich geprägten Anstaltskirche seit dem Ende
des 19. Jahrhunderts zu einer Volkskirche mit einem weit verzeigten Vereinswesen.
Dieses Modell gerät in der Zeit des Nationalsozialismus in eine Krise,
nicht zuletzt deshalb, weil sich Teile des Vereinswesens als anfällig für
die deutsch-christlichen Syntheseversuche von Christentum und Nationalsozialismus
erweisen. Die Bekennende Kirche, die im Ruhrgebiet einen starken Rückhalt
besitzt, reagiert auf diese Situation mit einer Konzentration auf die Aufgabe
der Verkündigung und damit auf das gottesdienstliche Leben der Kerngemeinden.
Nach 1945 lässt sich der Prozess einer Verkirchlichung des Ruhrgebietsprotestantismus
feststellen. Einerseits konzentriert sich das kirchliche Leben zusehends auf
die Kerngemeinde, andererseits werden Aufgabenfelder, die zuvor von freien Vereinen
wahrgenommen worden sind, von Pfarrern und anderen kirchlichen Dienstträgern
übernommen. Es entsteht eine Vielzahl von Funktionspfarrstellen sowie neuartiger
kirchlicher Projekte, mit denen der Protestantismus auf den Prozess der gesellschaftlichen
Ausdifferenzierung reagiert. Im Ruhrgebiet entwickelt sich insbesondere ein
beachtliches sozialkirchliches Engagement: neben dem Aufbau neuer Formen betriebsbezogener
Arbeit bildet die Begleitung des krisenhaften Strukturwandels einen Schwerpunkt
dieses Arbeitszweiges. Gegenwärtig durchlebt der Ruhrgebietsprotestantismus
auf Grund der demographischen Entwicklung sowie der abnehmenden kirchlichen
Bindungen eine Erosion und es stellt sich erneut die Frage nach einer Transformation
der kirchlichen Präsenz.
1. Von der Anstalts- zur Volkskirche: Die Neukonstituierung der Evangelischen Kirche im Ruhrgebiet im Horizont der Gemeindereform- und der Vereinsbewegung im Kaiserreich
1.1. Die konsequente Durchführung des Parochialprinzips durch Auspfarrungen und Gemeindeneugründungen in Verbindung mit dem Aufbau eines evangelischen Vereinswesens
Die Lebenswelt des Ruhrgebiets ist speziell seit den 1870er
Jahren von einer rasanten Industrialisierung sowie einer entsprechend schnell
ansteigenden Bevölkerungsentwicklung geprägt. Da die entstehenden
Industrien insbesondere auf die Zuwanderung auswärtiger Arbeitskräfte
angewiesen sind, entwickelt sich das Ruhrgebiet in dieser Zeit zu einer klassischen
Einwanderungsregion. Vor Beginn der Industrialisierung im Jahr 1820 lebten im
Ruhrgebiet etwa 270.000 Menschen. Bereits 1873 wird die Grenze von 1 Million
Einwohnern überschritten, bis zum Jahr 1897 verdoppelt sich die Einwohnerzahl
und steigt bis 1910 auf rund 3,5 Millionen Menschen an, die 4 Millionen-Grenze
wird im Jahr 1922 erreicht. Eine solche Bevölkerungsentwicklung - speziell
zwischen 1870 und der Mitte der 1920er Jahre sowie noch einmal zwischen 1950
und 1960 - übertrifft die Zuwachsraten aller anderen deutschen Ballungsgebiete
und Großstädte. Als größte Industrieregion Europas stellt
das Ruhrgebiet noch heute im wesentlichen eine wirtschaftliche und kaum eine
politische oder kulturelle Einheit dar.
Trotz des kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufschwungs seit der Mitte der 1870er
Jahre und einer Vollbeschäftigung, die es Arbeitnehmern ermöglicht,
relativ häufig den Arbeitsplatz auf der Suche nach besseren Arbeits- und
Lohnbedingungen zu wechseln, bleibt die soziale Lage der Industriearbeiterschaft
noch lange Zeit prekär. Sie beginnt sich allmählich seit der Mitte
der 1890er Jahre zu stabilisieren, als die Löhne kontinuierlich ansteigen,
jedoch noch deutlich hinter der Lohnentwicklung anderer Industrienationen zurückbleiben.
Diese soziale Situation führt zu mehreren größeren Streikwellen
der Ruhrbergarbeiterschaft, wobei die Streiks von 1889, 1905 und 1912 besonders
markant gewesen sind, da sie nahezu das gesamte Ruhrgebiet erfassen.
Die Kirchengemeinden sehen sich in dieser Zeit vor allem vor das Problem gestellt,
angesichts der rasch anwachsenden Zahl evangelischer Gemeindeglieder deren Integration
in das kirchliche Leben sicher zu stellen. Viele Gemeinden wachsen zu einer
unüberschaubaren Größe, sodass z. T. mehr als 10 Pfarrer in
einer Kirchengemeinde tätig sind. Die Betreuung der Gemeindeglieder regelt
sich häufig bloß zufällig. Vor diesem Hintergrund ist die Gemeindereformbewegung
im Protestantismus Ende des 19. Jahrhunderts zu verstehen, die – angeregt
vor allem durch den Dresdener Pfarrer Emil Sulze – das Ziel verfolgt,
die Gemeinden in relativ überschaubare Größen, die sog. Gemeindebezirke,
aufzugliedern und jedem Bezirk einen bestimmten Pfarrer zuzuordnen. Unterstützt
wird dieses Programm speziell im Ruhrgebiet durch die konsequente Gründung
neuer Gemeinden oder durch Auspfarrungen an den Orten, wo sich ein organischer
Bezug zur Gesamtgemeinde nicht mehr herstellen lässt. Die Kirchenleitungen
reagieren somit auf die Bevölkerungsentwicklung mit der strikten Durchsetzung
des Parochialprinzips, wobei das Leitbild die Entstehung überschaubarer
Gemeinden oder Bezirke ist, in denen es – so Sulze – „zur
Seelsorge und zu einer wirklichen Lebensgemeinschaft ihrer Mitglieder kommen
soll.“ Um dies zu gewährleisten, entstehen neben dem Gottesdienst
als der nach wie vor zentralen Veranstaltung der Kirchengemeinde zunehmend andere
kirchengemeindliche Aktivitäten, wie Kleinkinderschulen, Angebote der Jugendarbeit
sowie die spezifisch diakonische Gemeindepflege, die sich um das an vielen Orten
neu entstehende Gemeindehaus gruppieren. Der Pfarrer wird im Prozess dieser
Wandlung des Gemeindelebens immer mehr von einer hoheitlichen Amtsperson, die
bei Amtshandlungen vorrangig eine offizielle Funktion wahrnimmt, zu einem Integrationspunkt
der vielen neu entstehenden kirchengemeindlichen Aktivitäten: „Aus
verwalteten Pfarrstellen sollten durchstrukturierte Gemeinden mit öffentlichen
Angeboten werden.“ Der Aufbau von Vereinen sowie die seelsorgerliche Begleitung
der Einzelnen und erste Elemente von Erwachsenenbildung werden auf diese Weise
immer stärker zu einer Schlüsselqualifikation der Pfarrer. Auf diese
Weise wird das klassische Modell der Anstaltskirche nach und nach durch die
neue Form einer Vereins- und Gemeindekirche überwunden.
Dies ist der evangelischen Kirche im Ruhrgebiet Ende des 19. Jahrhunderts in
einem erstaunlich hohen Maße gelungen. Insbesondere durch die konsequente
Durchführung des Parochialprinzips gelingt es, eine geregelte kirchliche
Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Die Folge ist eine Vielzahl von
Gemeindeneugründungen speziell in der Zeit zwischen 1890 und 1910, sodass
die meisten Kirchengemeinden im Ruhrgebiet gegenwärtig 100 Jahre alt oder
jünger sind. In Entsprechung zu den vielen Gemeindeneugründungen werden
auch die Kirchenkreise als die nächstgrößere Verwaltungseinheit
neu geordnet, was sich exemplarisch an der Kreissynode Bochum zeigen lässt,
zu der um 1890 unter anderem die Gemeinden Herne, Gelsenkirchen, Eickel, Schalke,
Wattenscheid, Witten, Hattingen und Lütgendortmund gehören. In den
nächsten drei Jahrzehnten entstehen aus dieser Kreissynode in der geographischen
Mitte des Ruhrgebiets vier eigenständige Kreissynoden.
Die wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren dieses Gemeindeideals
ist ein hohes Maß an nachbarschaftlicher Kommunikation, was jedoch in
den Großstädten des späten 19. Jahrhunderts nicht mehr ohne
weiteres vorauszusetzen ist. Bereits in dieser Zeit werden Klagen über
die Anonymität in den Städten laut, gleichzeitig aber auch neue Kommunikationsformen
breiten Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht. Hinzu kommt die
hohe Mobilität, die einerseits durch die Migrationserfahrung, aber auch
durch recht häufige Wechsel des Arbeitsplatzes begründet gewesen ist.
Angesichts dieser Situation erweist sich die vorrangige Ausrichtung der verfassten
Kirche auf das Parochialprinzip als ein Defizit, wie sehr früh einzelne
Theologen – insbesondere Friedrich Naumann – immer wieder angemahnt
haben. Vor dem Hintergrund moderner Verkehrsmittel und der Presse bezeichnen
diese Stimmen die im Rahmen der Gemeindereformbewegung letztlich vorausgesetzte
geschlossene Einheit der Parochie als Illusion.
Als ein wichtiger Ansatz über die Grenzen der Parochie hinaus erweist sich
das entstehende kirchliche Vereinswesen, etwa die seit 1882 gegründeten
und im Ruhrgebiet schnell verbreiteten evangelischen Arbeitervereine , die sich
an manchen Orten als Vorformen der von Naumann angestrebten „Bildung von
Korporations- und Berufsgemeinden“ etablieren. Daneben entwickeln die
Ortsvereine des evangelischen Bundes und der Inneren Mission eine auf die gesamte
Stadt bzw. eine größere Region konzentrierte Präsenz. Viele
Vereine bleiben jedoch fast ausschließlich auf die Gemeinde bezogen. Für
das Ruhrgebiet charakteristisch ist somit eine Verschränkung der Gemeindereformbewegung
und der entstehenden kirchlichen Vereinsbewegung, die sich wechselseitig stützen
und die beiden wichtigsten Stützpfeiler der evangelischen Kirche um die
Jahrhundertwende werden.
Das sichtbarste Zeichen dieser Neukonstituierung der evangelischen Kirche im
Ruhrgebiet ist eine historisch bis dahin nicht gekannte Bautätigkeit. Nach
und nach errichten die neu entstandenen Kirchengemeinden, z. T. auch die Gemeindebezirke,
eigene Kirchen und vor allem eigene Gemeindehäuser, die sich sehr schnell
zum kommunikativen Mittelpunkt des Gemeindelebens entwickeln. Hinzu kommen in
den größeren Städten kirchliche Vereinshäuser, in denen
die übergemeindlichen Vereine ihre Präsenz in der Öffentlichkeit
deutlich markieren.
Der Bau der Kirchen sowie der Gemeinde- und Vereinshäuser wird an fast
allen Orten durch Spenden von Einzelpersönlichkeiten sowie durch großzügige
Unterstützungen von Industrieunternehmen realisiert. So haben Bergwerksgesellschaften
die Kirchen z.B. in Bochum-Gerthe, Bochum-Riemke und in Bockum-Hövel, das
Unternehmen Haniel das evangelische Vereinshaus in Duisburg-Ruhrort sowie insbesondere
die Firma Krupp die Bauten der evangelischen Gemeinde Essen-Altendorf zu einem
wesentlichen Teil oder sogar vollständig finanziert. Die Unternehmen, vor
allem Bergwerksgesellschaften, bewerten ihre Unterstützung bei kirchlichen
Bauvorhaben als einen Beitrag, den sozialen Desintegrationsprozessen im Zuge
der Industrialisierung durch ein breites Netz von Wohlfahrts- und im weitesten
Sinn Sozialeinrichtungen entgegen zu wirken. Dabei ist den Kirchengemeinden
eine Schlüsselrolle zugewiesen worden.
1.2 „Die Feminisierung des Religiösen“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert und ihre Bedeutung für den Ruhrgebietsprotestantismus
Diese aus heutiger Sicht beachtliche Aktivierung für das
protestantische Vereinswesen lässt sich insbesondere für die entstehenden
kirchlichen Frauenvereine belegen. Viele evangelische Frauenvereine werden unmittelbar
zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründet, nachdem im Jahr 1899 die preußische
Königin und Kaiserin Auguste Viktoria die Initiative zum Aufbau einer einheitlichen
evangelischen Frauenhilfe entwickelt hat. Die an manchen Orten bereits bestehenden
Frauenvereine gliedern sich sehr rasch in dieses Werk ein. Vor allem aber werden
um die Jahrhundertwende in fast allen Ruhrgebietsgemeinden weitere Frauenvereine
gegründet, die sich zu einer starken Säule des kirchlichen Lebens
entwickeln. In einzelnen Gemeinden und Gemeindebezirken gelingt eine nahezu
vollständige Integration der ansässigen evangelischen Frauen, gerade
auch in ausgesprochenen Arbeiterwohngebieten. So hat Pfarrer Johannes Zauleck
recht bald nach seinem Amtsantritt in seinem Bezirk in Bochum, einer reinen
Arbeiterwohngegend gegenüber dem Stahlwerk „Bochumer Verein“
gelegen, im Jahr 1914 einen Frauenverein gegründet, dem innerhalb kurzer
Zeit 550 Frauen, „so gut wie jede evgl. Frau unseres Bezirkes“ ,
beigetreten ist.
Der hier exemplarisch zum Ausdruck kommenden starken Verankerung der Frauen
in das kirchliche Leben ist man sich seitens der Pfarrerschaft und der Synoden
sehr wohl bewusst, wie der Synodalbericht der Bochumer Kreissynode von 1913
beweist, welcher die Zurückhaltung der örtlichen Sozialdemokratie
und ihrer Vereinigungen gegenüber der in Berlin sehr aktiven und durchaus
erfolgreichen Kirchenaustrittsbewegung „Massenstreik gegen die Staatskirche“
herausstellt. Den entscheidenden Grund hierfür sieht der Synodalbericht
in „einer religiösen Scheu, namentlich bei den Frauen..., welche
das letzte Band mit der Kirche zu zerschneiden, auf Taufe und Konfirmation der
Kinder und namentlich auf ein kirchliches Begräbnis zu verzichten, Bedenken
tragen“ .
Diese Hinweise können auch im Ruhrgebiet als ein Indiz für die These
der „Feminisierung der Religion“ während des 19. Jahrhunderts
herangezogen werden. Diese These besagt, dass sich einerseits ein Übergewicht
femininer Attribute im Vollzug von Religion herausbildet und dass andererseits
die familiale Sozialisation zum entscheidenden Ort der Religion wird, wo Frauen
als Tradentinnen religiöser Traditionen im privaten Raum der Familie wirken,
auf diesen Raum verpflichtet werden, damit jedoch gleichzeitig auch den öffentlichen
Raum der Kirchen immer stärker zu prägen beginnen. Auf diese Weise
avancieren Frauen zum ausschlaggebenden Faktor in Fragen der religiösen
Erziehung und gewinnen in diesem Zusammenhang eine spezifische Kompetenz auch
in kirchlichen Angelegenheiten.
Als Beleg für diese These kann nicht zuletzt der Einfluss von Frauen auf
die Erziehung von Kindern in konfessionsverschiedenen Ehen – nach dem
damaligen Sprachgebrauch in sog. „Mischehen“, welche im konfessionsgemischten
Ruhrgebiet relativ häufig gewesen sind – betrachtet werden. Grundsätzlich
galt nach einer das „Allgemeine preußischen Landrecht“ ergänzenden
Deklaration Friedrich Wilhelms III. vom November 1803 das patriarchalische Bestimmungsgesetz,
wonach Kinder in gemischter Ehe bis zum 14. Lebensjahr in der Religion des Vaters
zu erziehen sind. Allerdings ist die Möglichkeit eingeräumt, dass
sich ein Vater damit einverstanden erklärt, die Kinder nach der religiösen
Konfession der Frau erziehen zu lassen. Die Verschiebungen im Einfluss der Geschlechter
auf die Erziehung von Kindern – speziell auf die religiöse Erziehung
– während des 19. Jahrhunderts lassen sich damit belegen, dass die
im Gesetz als Ausnahme zugestandene Möglichkeit eine Erziehung nach der
religiösen Konfession der Frau immer häufiger geworden ist und in
dem Zeitraum zwischen 1890 und 1910 die Entwicklung dahin geht, dass mehrheitlich
bei Mischehen Kinder in der Konfession der Frauen erzogen werden, wie folgende
Zahlen aus der Kreissynode Bochum belegen:
Bei einem katholischen Vater und einer evangelischen Mutter ist es
im Jahr 1890 in 52 %,
im Jahr 1900 in 45 % und
im Jahr 1910 in 41 % der Fälle zu einer katholischen Kindererziehung gekommen.
Im umgekehrten Fall der Ehe eines evangelischen Vaters und einer katholischen
Mutter ist es
im Jahr 1890 in 44 %,
im Jahr 1900 in 40 % und
im Jahr 1910 in 39 % der Fälle zu einer evangelischen Erziehung der Kinder
gekommen. Die Tendenz dieser beiden Statistiken zeigt deutlich, dass es in der
Zeit zwischen 1890 und 1910 zunächst den katholischen Frauen, mit einer
leichten Zeitverzögerung aber auch evangelischen Frauen gelungen ist, die
Kinder nach ihrer jeweiligen Konfession zu erziehen. Insgesamt ist auf diese
Weise ein praktisch ausgewogenes Verhältnis bei der Kindererziehung in
konfessionsverschiedenen Ehen erreicht worden, wie es die absoluten Zahlen aus
dem Kirchenkreis Bochum jener Zeit unterstreichen:
Ehen mit evangelischer Kindererziehung:
1886: 1179 1896: 1032 1906: 1513.
Ehen mit katholischer Kindererziehung:
1886: 1510 1896: 1185 1906: 1606.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Feminisierung des Religiösen im 19. Jahrhundert
ist darin zu sehen, dass mit der 1836 beginnenden erneuten Schaffung des Diakonissenamtes
im Protestantismus eine kirchlich und gesellschaftlich anerkannte Lebensform
für Frauen außerhalb der Familie in der Form einer religiös
fundierten Berufstätigkeit geschaffen worden ist. Angesichts der sozialen
Problemlagen im 19. Jahrhundert wird die praktische Sozialarbeit zu einem immer
selbstverständlicher werdenden Teil kirchlichen Handelns. Dies gilt in
erster Linie für die größeren Einrichtungen und Werke der Inneren
Mission, schlägt sich aber auch auf der Ebene der Kirchengemeinden durch
die Anstellung von Gemeindeschwestern sowie Erzieherinnen für die beginnende
Kinderarbeit nieder. Seit den 1890er Jahren gehören Gemeindeschwestern
in den meisten größeren Ruhrgebietsgemeinden zu den auf das pfarramtliche
Handeln hingeordneten Hilfsdiensten, welche insbesondere in der Erziehungshilfe
sowie in der sozialen Unterstützung von Frauen und älteren Menschen
ihre zentrale Aufgabe finden.
1.3 Bedeutung und Grenze des konfessionellen Gegensatzes im Ruhrgebiet.
Die wesentlich unter protestantischen Vorzeichen und mit einem
starken nationalprotestantischen Selbstbewusstsein erfolgte Einigung des Deutschen
Reiches, der sehr bald ausbrechende Kulturkampf und auch die zunehmende Verunsicherung
beider Kirchen durch die Industrialisierung und den damit einhergehenden gesellschaftlichen
Wandel führen allmählich zu einer Vertiefung der konfessionellen Gegensätze,
die speziell in den 1880er Jahren häufig zu aggressiver Polemik auf beiden
Seiten führt. Im Ruhrgebiet ist dieser Gegensatz vor dem Hintergrund eines
konfessionellen Mischverhältnisses spätestens seit der Industrialisierung
eine allgegenwärtige Erfahrung, die in nahezu jeder Gemeinde und nicht
zuletzt in den konfessionellen Grundschulen das alltägliche Leben prägt.
Konflikte entzünden sich zunächst auf Grund politischer Gegensätze.
Die vielerorts bestehenden christlich-sozialen Bergmannsvereine, in denen in
relativ großer Selbstverständlichkeit evangelische und katholische
Mitglieder einen Ort der gemeinsamen Traditionspflege und der kirchlichen Besinnung
gefunden haben, werden zu Beginn der 1880er Jahre von Konflikten um die politische
Ausrichtung ihrer Mitglieder geprägt. Dies lässt sich insbesondere
anhand der Gründungsgeschichte der evangelischen Arbeitervereinsbewegung
verdeutlichen. Ein Wahlaufruf des Christlich-Sozialen Arbeitervereins Gelsenkirchen
für das katholische „Zentrum“ stößt bei den evangelischen
Mitgliedern, die mehrheitlich national-liberal eingestellt sind, auf einen scharfen
Protest. Dieser eskaliert, als der evangelische Bergmann Fröhlich, der
sich in besonderer Weise gegen den Wahlaufruf ausgesprochen hat, aus dem Verein
ausgeschlossen wird, woraufhin sich im Sommer 1882 in Gelsenkirchen ein erster
evangelischer Arbeiterverein konstituiert.
In der sich rasch entwickelnden evangelischen Arbeitervereinsbewegung im Ruhrgebiet
steht seit diesem Beginn die aktive und bewusste Förderung „evangelischen
Bewusstseins unter den Glaubensgenossen“ im Zentrum des eigenen Selbstverständnisses.
Einen besonderen Auftrieb erfährt das protestantische Selbstbewusstsein
im Jahr 1883, in dem anlässlich des 400. Geburtstages Luthers in einer
starken Akzentuierung der „deutsche Luther“ in Konfrontation zum
Katholizismus wie auch zur stärker werdenden Sozialdemokratie in das allgemeine
Bewusstsein der Protestanten gerückt wird. Ein weiterer Höhepunkt
der protestantischen Selbstvergewisserung im Kaiserreich in Abgrenzung speziell
zum Katholizismus folgt im Jahr 1887, in dem der 370. Jahrestag des reformatorischen
Thesenanschlags in besonderer Weise gefeiert wird, nachdem kurz zuvor der Evangelische
Bund zur Wahrung deutsch-protestantischer Interessen gegründet worden ist.
Der Evangelische Bund findet auch im Ruhrgebietsprotestantismus sehr schnell
breite Anerkennung und Unterstützung. In den Anfangsjahren gestaltet sich
zudem eine sehr enge Zusammenarbeit der Ortsvereine des Evangelischen Bundes
mit denen der evangelischen Arbeitervereine. So verstehen sich Evangelischer
Bund und die Arbeitervereine im Ruhrgebiet als ein „Bollwerk“, an
dem der Ansturm der Feinde, sei es mit „rotem“ sei es mit „schwarzem
Banner“ , abprallt.
Vor dem Hintergrund dieses äußerst gespannten Verhältnisses
zwischen den Konfessionen ist es um so überraschender, dass im Jahr 1894
im Ruhrgebiet ein „Gewerkverein christlicher Bergleute“ als erste
interkonfessionelle Gewerkschaft gegründet worden ist. Auslöser dieser
Bestrebungen ist einerseits die sich verschärfende antireligiöse Polemik
des „alten Verbandes“, der sich zu Beginn der 1890er Jahre in einer
Krise befindenden sozialdemokratisch orientierten Bergarbeitergewerkschaft,
und andererseits ein nach Aufhebung des Sozialistengesetzes verstärkter
Aufbau sozialdemokratischer Vereine zur Bildungs- und Jugendarbeit, in der beide
Konfessionen eine enorme Herausforderung erblicken. Am 8. Juli 1894 veröffentlicht
der katholische Bergarbeiter August Brust aus Essen einen Aufruf zur Gründung
eines Gewerkvereins christlicher Bergleute, der auch an die evangelischen Arbeitervereine
gerichtet wird, nicht zuletzt, da sich im Vorfeld auch evangelische Bergleute
an der Formulierung des Aufrufs beteiligt haben. Wie nicht anders zu erwarten,
stößt dieser Aufruf bei den Spitzen der evangelischen Arbeitervereine,
vor allem jedoch bei den eng mit diesen Vereinen verknüpften Zweigorganisationen
des Evangelischen Bundes auf Kritik, wenngleich sofort auch abwägendere
Stimmen laut werden, die ein Zusammengehen der beiden Konfessionen im Gegenüber
zur Sozialdemokratie befürworten.
Unversöhnlich bleibt die Haltung des Evangelischen Bundes, der bereits
in seinem Generalbericht von 1891 festgestellt hat, dass auch die soziale Gefahr
keinen Grund bietet, „unsere Frontstellung gegen die römische Kirche
einzuziehen“. Innerhalb der evangelischen Arbeitervereine ist diese schroffe
Haltung jedoch nicht mehr vermittelbar. Nach längerer Debatte beschließt
die Versammlung, stark beeinflusst durch den Vorsitzenden der evangelischen
Arbeitervereine, Ludwig Weber, einstimmig, Mitglieder der evangelischen Arbeitervereine
zu dem geplanten christlichen Bergarbeiterkongress zu entsenden. Die Gründungsversammlung
des Gewerkvereins christlicher Bergleute vom 26. August 1894 findet dementsprechend
unter reger Beteiligung evangelischer Bergleute statt, wobei sich jedoch die
katholischen Bergleute als die zahlenmäßig überlegene Kraft
und auch in der Besetzung wichtiger Vorstandspositionen als dominierend erweisen.
Nur eine Minderheit der evangelischen Arbeitervereine schließt sich aus
prinzipiell konfessionellen Überlegungen der entstehenden christlichen
Gewerkschaftsbewegung nicht an, sodass sich mit der Gründung und Konsolidierung
der christlichen Gewerkschaftsbewegung eine erste bedeutsame interkonfessionelle
Bewegung herausbildet, deren Wurzeln im Ruhrgebiet liegen.
Die Gründungsgeschichte der christlichen Gewerkschaften zeigt, dass soziale
Anliegen letztlich den konfessionellen Gegensatz, trotz der Schärfe, die
dieser Gegensatz in der Zwischenzeit angenommen hat, zu dominieren vermag. Ebenso
ist die gemeinsame Frontstellung gegenüber der Sozialdemokratie als Erklärungsmoment
heranzuziehen, welche offensichtlich die innerchristlichen Gegensätze zu
überwinden hilft. Auch wenn sich das Verhältnis der Konfessionen nach
wie vor sehr spannungsreich darstellt, ist seit der Mitte der 1890er Jahre der
Höhepunkt der konfessionellen Polemik überschritten. Darüber
hinaus bleibt es für die deutsche Kirchengeschichte bedeutsam, dass sich
speziell auf sozialpolitischem Gebiet unter den Bedingungen der hochindustrialisierten
Region des Ruhrgebiets ein konstruktiver Dialog und sogar Ansätze der Kooperation
zwischen den Konfessionen ausgebildet haben .
1.4 Theologische Profile des Ruhrgebietsprotestantismus vor 1933
Im Ruhrgebiet lassen sich im wesentlichen zwei Profile pfarramtlicher
Tätigkeit unterscheiden. Dominierend bleibt bis in die 1920er Jahre hinein
der traditionale, sozialpatriarchalische Einstellungstyp, dessen Lebenswelt
weitgehend von den agrarischen Bezügen der vorindustriellen Welt bestimmt
gewesen ist. Das sozialpatriarchalische Weltbild ist von klaren Über- und
Unterordnungsverhältnissen geprägt, wie sie in klassischer Weise in
Luthers Erläuterungen zum Elterngebot im Großen Katechismus ihren
Ausdruck gefunden haben. Die alltagspraktische Ausgestaltung der grundsätzlich
hierarchisch verstandenen Sozialverhältnisse: Eltern - Kinder; Vorgesetzter
- Untergebene, Unternehmer - Arbeiter u.a. schärft den untergeordneten
Ständen grundsätzliche Gehorsamspflichten ein. Diesen Gehorsams- und
Treuepflichten der Untergebenenstände hat auf der anderen Seite ein besonderes
Fürsorgeverhältnis der übergeordneten Stände zu entsprechen,
welches stark bevormundend, vielerorts jedoch auch von echter sozialer Verantwortung
geprägt gewesen ist.
Dieses Idealbild der durch christlichen Geist versittlichten patriarchalen Verhältnisse,
von Ernst Troeltsch als christlicher Liebespatriarchalismus gedeutet , prägt
das theologische Denken und pfarramtliche Handeln der meisten Pfarrer in den
Ruhrgebietsgemeinden am Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Mentalität ist
nicht zuletzt in der sozialen Herkunft der meisten Pfarrer begründet, wobei
es auffällig ist, dass im Ruhrgebiet die soziale Herkunft der Pfarrer aus
dem „Agrarbereich“ bis 1905 ständig zunimmt. Erst ab dem Jahr
1910 kommt der stärkste Zuwachs junger Theologen aus dem Bereich „Öffentliche
Dienste/Freie Berufe“.
Neben diesem dominierenden Typ theologisch-ethischen Denkens bildet sich speziell
seit den 1890er Jahren eine sozialkonservative, reformorientierte Haltung eines
nicht unbeträchtlichen Teils der Pfarrerschaft im Ruhrgebiet heraus. Pfarrer
dieses Einstellungstyps, in der Regel noch relativ jung, sind diejenigen, welche
sich vor allem für den Aufbau des entstehenden Vereinswesens im Ruhrgebiet
engagieren. Sie stellen sich auf den durch die Industrialisierung geprägten
Wandel der Lebenswelt ein und versuchen, einen kirchlichen und sozialen Fortschritt
auf der Basis einer bewusst nationalen und königstreuen Haltung und einer
theologisch modern-positiven Theologie zu initiieren. Das Ideal dieser Pfarrer,
die in der Regel von Adolf Stoecker beeindruckt sind, kann dahingehend charakterisiert
werden, dass sie eine harmonische Verbindung von sozialer Volkskirche und sozialem
Königstum anstreben. So engagieren sie sich für sozialpolitische Forderungen,
welche im Rahmen des Bestehenden die berechtigten Ansprüche der Arbeiterschaft
sichern sollen. Obwohl streng antisozialistisch und häufig auch antidemokratisch
eingestellt, haben sie die konkreten Lebensverhältnisse der Arbeitnehmer
sehr deutlich gesehen und entsprechende Reforminitiativen mitgetragen, vereinzelt
sogar Verständnis für die Forderungen von Streikenden – etwa
im Rahmen des großen Bergarbeiterstreiks von 1905 – artikuliert.
Demgegenüber spielt der den Protestantismus im 19. Jahrhundert weitgehend
prägende Gegensatz von theologischem Liberalismus und einem orthodox-konservativen
Verständnis des Evangeliums im Ruhrgebiet kaum eine Rolle. Als prominenter
liberaler Theologe ist hier nur Gottfried Traub zu nennen, der seit 1901 als
Pfarrer an der Dortmunder Reinoldikirche wirkt. Bei Traub spielt als Naumann-Schüler
das sozialpolitische Engagement eine große Rolle, wie es nicht zuletzt
seine beiden bedeutenden, während der Dortmunder Amtszeit verfassten Schriften
„Ethik und Kapitalismus“ (1904) sowie „Der Pfarrer und die
soziale Frage“ (1907) beweisen.
Aufgrund seiner theologisch liberalen Haltung – so hat Traub seine Konfirmanden
nicht auf das Apostolicum verpflichtet und sich öffentlich für den
1911 amtsenthobenen Kölner Pfarrer Carl Jatho eingesetzt – ist er
im Jahr 1912 trotz eines Rückhalts in der Gemeinde vom Konsistorium der
westfälischen Provinzialkirche aus dem Pfarrdienst entlassen worden, was
in den gebildeten Schichten des Protestantismus zu heftigen Protesten , jedoch
nicht zu größeren innerkirchlichen Auseinandersetzungen im Ruhrgebiet
geführt hat. Traub und die durch ihn verkörperte sozialliberale Mentalität
bleibt im Ruhrgebietsprotestantismus letztlich ein Randphänomen.
2. Der Kirchenkampf und seine Auswirkungen auf den Ruhrgebietsprotestantismus
2.1. Die Ruhrgebietsgemeinden als bedeutsamer Rückhalt der Bekennenden Kirche in Westfalen und im Rheinland
Das Ruhrgebiet wird sehr früh ein Zentrum der sich im
Laufe der Jahre 1933/34 herausbildenden „Bekennenden Kirche“, die
sich allen Bestrebungen einer Gleichschaltung der evangelischen Kirche widersetzt
und durch ihr Bekenntnis sowie den Aufbau eigener kirchenleitender Gremien theologisch
wie kirchenpolitisch den Anspruch erhebt, allein die legitime evangelische Kirche
in Deutschland zu repräsentieren.
In den kirchenpolitischen Wirren des Frühjahres 1933, in denen sich die
Zielsetzungen und Aktivitäten der nationalsozialistisch orientierten Glaubensbewegung
der „Deutschen Christen“ und der auf eine Kirchenreform zielenden
„Jungreformatorischen Bewegung“ sowie die kirchenjuristischen Bemühungen
um die Schaffung einer einheitlichen deutschen Reichskirche auf vielfältige
Weise überkreuzen , ruft der Bochumer Pfarrer Hans Ehrenberg im Frühjahr
1933 fünf weitere Pfarrer aus dem Ruhrgebiet, unter ihnen Ludwig Steil
aus Holsterhausen bei Herne, in sein Pfarrhaus zusammen, um angesichts der Konflikte
in der Kirche, aber auch in Reaktion auf die neue Situation im Staat eine sog.
„Bekenntnisfront“ aufzubauen. Diese Pfarrer haben das erste öffentliche
Bekenntnis von evangelischen Christen zur Lage von Kirche und Staat am Beginn
der NS-Herrschaft ausgearbeitet. Es wird zu Pfingsten 1933 als „Wort und
Bekenntnis westfälischer Pfarrer zur Stunde der Kirche und des Volkes“
mit der Unterschrift von rund 100 Pfarrern veröffentlicht.
Dieses Bochumer Pfingstbekenntnis bedeutet eine der frühesten theologischen
Orientierungen der sich nach und nach formierenden Bekennenden Kirche. Inhaltlich
enthält es eine klare Absage an das Programm der Deutschen Christen, aber
auch eine Kritik der nationalsozialistischen Weltanschauung. Das Bochumer Pfingstbekenntnis
verurteilt die nationalsozialistische Beschwörung des Volkstums als Schwärmerei,
welche die natürlichen Gegebenheiten von Gott dem Schöpfer lösen
will. Bemerkenswert ist ferner der frühe, theologisch begründete Widerspruch
gegen jeden totalitären Anspruch des Staates.
Mit der Herausgabe dieses Pfingstbekenntnisses und seiner großen Breitenwirkung
in Westfalen - nicht zuletzt im Raum des Ruhrgebiets – werden Hans Ehrenberg
und vor allem der noch recht junge Ludwig Steil zu den bekanntesten Pfarrern
der Region. Während Hans Ehrenberg als sog. „Judenchrist“ sich
auf Grund permanenter Anfeindungen seitens verschiedener NS-Stellen nach und
nach aus den öffentlichen Auseinandersetzungen zurückziehen und schließlich
auch das Pfarramt aufgeben muss , wird Steil als Mitglied des Reichs-Bruderrates
des Pfarrernotbundes, der sich im Herbst 1933 aus Protest gegen die von den
„Deutschen Christen“ geforderte Übernahme des sog. „Arierparagraphen“
in der Kirche gebildet hat, und später als Mitglied des westfälischen
Bruderrates zu einer Leitfigur der BK.
Neben den Kirchenkreisen Herne und Bochum, wo sich neben Steil und Ehrenberg
insbesondere der ehemalige CSVD-Reichstagsabgeordnete Albert Schmidt für
die Belange der BK engagiert, sind insbesondere die Synoden Dortmund und Essen
weitere Schwerpunkte der BK im Ruhrgebiet. In Dortmund spielen die Pfarrer Lücking
und Heuner eine herausragende Rolle für den Kirchenkampf. Lücking
organisiert 1934 in Dortmund die beiden großen Versammlungen zur Konstituierung
der westfälischen BK und übernimmt in der Folgezeit die geschäftliche
Leitung des westfälischen Bruderrates. Nach mehreren Hausdurchsuchungen
ist die Geschäftsstelle schließlich im Juni 1938 von der Gestapo
aufgelöst worden, die Mitarbeiter kurzfristig inhaftiert, während
Lücking 111 Tage in Haft geblieben und nach seiner Freilassung nach Hinterpommern
verbannt worden ist. Heuner amtiert seit 1934 als Superintendent der Dortmunder
Bekenntnissynode und ist auf Grund der entschiedenen Verteidigung kirchlicher
Positionen mehrfach inhaftiert und ebenfalls im Sommer 1938 aus Westfalen verbannt
worden.
In Essen spielt Pfarrer Graeber eine besondere Rolle, der mit Hilfe seines Presbyters
und Freundes Gustav Heinemann eine eigenständige freie Gemeinde gründet.
Für die rheinische BK ist der Essener Pfarrer Heinrich Held auf regionaler
wie auf überregionaler Ebene von hervorragender Bedeutung. Schließlich
kann sich die kirchliche Jugendarbeit – so der CVJM im Essener Weigle-Haus
unter Leitung seines in der BK engagierten Pfarrers Wilhelm Busch, der westdeutsche
Jungmännerbund unter Pfarrer Johannes Busch in Witten und der westfälische
Provinzialverband weiblicher Jugend unter Pfarrer Steinsiek in Hagen –
eine Eigenständigkeit bewahren.
2.2. Die Konzentration auf die kerngemeindlichen Funktionen kirchlichen Handelns
Der Kirchenkampf führt zu einer beträchtlichen Aktivierung
in der evangelischen Kirche. In Westfalen erklären 500.000 Gemeindeglieder
– von rund 2,36 Millionen insgesamt – ihren Beitritt zur BK. Eine
besonders hohe Mobilisierung von Gemeindegliedern für die BK gelingt z.B.
in Holsterhausen, der Gemeinde Steils, wo knapp 50% Mitglieder der BK zu verzeichnen
sind. Dies ist im Ganzen aber eine Ausnahme gewesen. Nach dem hohen Grad der
öffentlichen Aufmerksamkeit zu Beginn des Kirchenkampfes, der wesentlich
aus einer allerdings sehr kurzfristigen, rein kirchenpolitisch begründeten
Mobilisierung beträchtlicher Teile der evangelischen, häufig kirchlich
distanzierten Wähler der NSDAP für die Anliegen der DC resultiert,
konzentrieren sich die Auseinandersetzungen in den folgenden Jahren stärker
auf die Kerngemeinden. Die Mitgliedszahlen der BK in Synoden mit einem starken
Rückhalt, wie in Herne – hier zählt die BK zur Jahreswende 1934/35
25.ooo Mitglieder – oder Gelsenkirchen, liegen bei rund 25%, in den meisten
anderen Ruhrgebietssynoden schwanken die Zahlen zwischen 15% und 20%. Allerdings
gehören damit rund 90% der kirchlich aktiven Protestanten zur BK , die
DC kann ab 1934 höchstens 5% aktiver Gemeindeglieder mobilisieren, der
Rest verhält sich zu beiden Richtungen distanziert. Auch in der Pfarrerschaft
Westfalens und Rheinlands ist mit rund 70% eine überdurchschnittlich hohe
Zustimmung und Mitwirkung in der BK zu verzeichnen. Vor diesem Hintergrund ist
es plausibel, dass sich das Selbstverständnis und die Praxis der BK-Gemeinden
stark auf die zentrale Aufgabe der Verkündigung konzentriert. Dies entspricht
zudem dem theologischen Selbstverständnis der BK, wie es in der Wort-Gottes-Theologie
begründet ist und in der Barmer Theologischen Erklärung als dem Gründungsdokument
der BK vom 31.5.1934 seinen Ausdruck gefunden hat.
Mit dieser Akzentsetzung sind die Grundlagen und das Wollen des nationalprotestantischen
und des kirchlich-sozialen Vereinswesens theologisch in Frage gestellt. Da große
Teile des Vereinswesens ohnehin von Verboten betroffen sind und sich, nach dem
freiwilligen Beitritt im Jahr 1933 zu den gleichgeschalteten, von der DC dominierten
Männer-, Frauen- und Jugendwerk der Deutschen evangelischen Kirche, nur
unter Schwierigkeiten als gemeindenahe Gruppen reorganisieren können, erleidet
dieser für den Ruhrgebietsprotestantismus wichtige Arbeitsbereich im kirchlichen
Vorfeld mit seinen Angeboten der Geselligkeit und der Bildungsarbeit Einbrüche.
Eine weitere Einschränkung der kirchlichen Arbeit bedeutet das in den Jahren
1935/36 forcierte Programm des Nationalsozialismus zur Entkonfessionalisierung
des öffentlichen Lebens. Eine wichtige Rolle spielt diesbezüglich
der Erlass Heydrichs vom 6. Juni 1936 an die Deutsche Evangelische Kirche, der
Geistlichen ein Redeverbot erteilt, von dem allein die im engeren Sinn seelsorgerlichen
Tätigkeiten, die Amtshandlungen und die Gottesdienste ausgenommen bleiben.
Damit hat der NS-Staat versucht, alle über den unmittelbar geistlichen
Bereich hinausgehenden Handlungsfelder der Kirche, wie sie für die am Ende
des 19. Jahrhunderts herausgebildete Form der Vereins- und Gemeindekirche typisch
geworden sind, zu unterbinden.
Sowohl das theologische Selbstverständnis vieler Pfarrer und Mitglieder
der BK wie auch die Maßnahmen des NS-Staates zielen somit auf eine Konzentration
kirchlichen Handelns auf die zumeist im engeren Sinn verstandenen Aufgaben der
Verkündigung und Seelsorge. Die Wirkungen sind ambivalent: Einerseits wird
die zentrale Bedeutung der Verkündigung in neuer Weise erkannt und prägt
das Selbstverständnis von Pfarrern und Gemeinden. Andererseits ist aber
auch eine Milieuverengung des Protestantismus in jenen Jahren zu verzeichnen.
Im Ruhrgebiet ist es insbesondere Gustav Heinemann, der die Bedeutung der kirchlichen
Bildungsarbeit über die Verkündigungsaufgabe hinaus betont und sich
aus diesem Grund seit 1937 im Essener Weigle-Haus des CVJM engagiert. Der CVJM
befindet sich während der NS-Zeit in einer bedrängten Lage, da eine
freie Jugendarbeit während dieser Zeit nicht möglich ist und man sich
ebenfalls auf sog. rein religiöse Aktivitäten beschränken muss.
In seiner Antrittsrede im Vorstand des CVJM stellt Heinemann die Notwendigkeit
der Bildungsarbeit an jungen Männern heraus, gerade in einer Zeit, in der
ein „offener Kampf gegen das Christentum“ geführt werde. Dabei
sieht Heinemann die besondere Chance und Aufgabe des CVJM darin, dass nicht
allein durch die Verkündigung der Pfarrer, sondern auch durch „Laien
aller Berufe“ im Sinne des Priestertums aller Gläubigen, wie es die
evangelische Kirche auszeichnet, eine umfassende religiöse Bildung und
seelsorgerliche Begleitung junger Menschen gewährleistet werden könne.
2.3. Theologisch-ethische Neuorientierungen durch die Erfahrungen des Kirchenkampfes
Die mehrheitlich national-konservativ geprägten Protestanten,
deren Haltung für den Ruhrgebietsprotestantismus vor 1933 typisch gewesen
ist, geraten im Verlauf der NS-Zeit immer häufiger in einen partiellen
oder z.T. sogar grundsätzlich werdenden Gegensatz zum NS-Staat. Die Auseinandersetzungen
um Rechtsbrüche des Staates im Blick auf kirchliche Belange, zunehmend
aber auch eine Sensibilität für die schrittweise Aushöhlung und
Aufgabe der Rechtsstaatlichkeit, führen sie zu einer theologisch-ethischen
Neuorientierung, welche die für den deutschen Protestantismus typische,
nahezu unbedingte Staatsloyalität nach und nach überwindet.
Beispielhaft kann dies am weiteren Lebensweg Ludwig Steils gezeigt werden, da
er der Märtyrer der BK im Ruhrgebiet werden wird. Steils unermüdlicher
Einsatz im Rahmen der BK verbunden mit seiner deutlich zum Ausdruck gebrachten
Distanz zum totalitären NS-Staat sowie einer scharfen Ablehnung der weltanschaulichen
Positionen Rosenbergs bringen ihn wiederholte Male in Konflikte mit nationalsozialistischen
Dienststellen.
Solche Erfahrungen haben bei Steil und vielen anderen Theologen der BK zu einer
Distanzierung vom traditionellen, unhinterfragten Gehorsam gegenüber der
als „Obrigkeit“ verstandenen Staatsführung und zu der Entdeckung
und Wahrnahme einer kirchlichen Öffentlichkeitsverantwortung geführt.
In diesem Sinn hält Steil während der Tagung der reichsweiten Bekenntnissynode
1936 in Bad Oeynhausen die Synodalpredigt über Amos 8, 11-12 und führt
darin aus, dass das prophetische Amt stets der Gemeinde als Ganzer gegeben und
das prophetische Wort der Schrift als konkrete Wegweisung für Kirche und
Volk zu verstehen ist. Die Gemeinde hat dieses Wort der Welt zu sagen, auch
wenn diese - wie Steil am Beispiel von Repressalien gegenüber kirchlichen
Einrichtungen und der Verkehrung der christlichen Botschaft durch völkisch-religiöse
Feiern deutlich zu machen versucht - das prophetische Wort ablehne.
In den folgenden Jahren der NS-Herrschaft kommt es kontinuierlich zu publizistischen
Angriffen auf Steil in NS-Zeitungen sowie zu vielfachen Vernehmungen bei der
Geheimen Staatspolizei. So laufen im Jahr 1938 beim Sondergericht in Dortmund
fünf Verfahren gegen Steil, die sich jeweils auf das „Gesetz gegen
heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiformationen“
beziehen. Solche Verfahren und die darauf folgenden Vernehmungen bei der Gestapo
haben häufig das Verlesen der BK-Fürbittenlisten für gefangene
oder gemaßregelte Brüder und Schwestern der BK oder auch kirchliche
Erklärungen gegen die rassische Weltanschauung Rosenbergs zum Inhalt. Steil
hat das Verlesen der Fürbittenlisten kontinuierlich durchgehalten und sich
auch durch ein besonderes Verbot im Sommer 1944 nicht davon abbringen lassen.
Die Verhaftung Steils und seine Überstellung in ein Konzentrationslager
im September 1944 erfolgen somit nicht aufgrund eines einmaligen Konfliktes,
sondern bringen die ständigen Auseinandersetzungen zwischen Steil und NS-Behörden
zu einem sich beinahe zwangsläufig ergebenden Höhepunkt. Der unmittelbare
Anlass der Verhaftung ist eine auf Bitten der Herner Kirchengemeinde in der
dort noch unzerstörten Kirche gehaltene Volksmissionswoche. Steil hat in
diesen Vorträgen den Menschen dadurch versucht Mut zuzusprechen, dass er
die Macht Gottes und seines Regimentes deutlich hervorhebt, der gegenüber
alle Pläne und Zielsetzungen von Menschen zuschanden werden müssen.
Im Rahmen des Vortrages über Gottes Weltregiment weist Steil kritisch auf
die Aussage Hitlers hin, dass die sog. „lebensunwerten“ Menschen
ausgerottet werden müssten, während diese nach Gottes Willen jedoch
auch ein Recht auf Leben hätten. Hier konkretisiert sich für Steil
erneut der Konflikt zwischen Glaubensgehorsam und Staatsloyalität.
Wenige Wochen nach dieser Vortragsreihe vom Juli 1944 in Herne muss er sich
in Dortmund bei der Gestapo wegen einiger Aussagen - insbesondere wegen seiner
Kritik an der Vernichtung des sog. „lebensunwerten“ Lebens - verantworten.
Noch vor der Vernehmung ist von der Gestapo die Überführung Steils
nach Dachau beantragt worden. Am 5.12. werden Steil und andere Mitgefangene
auf den Transport nach Dachau geschickt. Nach einem rund dreiwöchigen Transport
unter menschenunwürdigen Bedingungen - eng zusammengelegt mit Kranken,
ohne Decken und Strohsäcke - trifft er mit anderen Leidensgefährten
am 23.12. in Dachau ein. Unterwegs hat er sich - so der Bericht eines Überlebenden
an seine Frau - insbesondere um Kranke seelsorgerlich gekümmert und zudem
von seinen Essensrationen abgegeben. Gegen Ende des Transports erleidet er einen
schweren Schwächeanfall, bei der Ankunft in Dachau ist Steil grippekrank.
Bereits Anfang Januar 1945 wird er mit Typhus ins Krankenrevier eingeliefert,
wo er – durch die Gefangenschaft und die unzureichende Versorgung stark
geschwächt – am 17. Januar 1945 in Dachau verstirbt.
2.4. Die Re-Stabilisierung der „Volkskirche“ in der Endphase des zweiten Weltkriegs
Vor dem Hintergrund der exemplarisch an Hand des Lebenswegs
Ludwig Steils geschilderten Auseinandersetzungen zwischen BK-Pfarrern und NS-Dienststellen
wird das Ausmaß staatlicher Repressionen gegenüber dem Protestantismus
auch im Ruhrgebiet deutlich. In der NSDAP gewinnen die „weltanschaulichen
Distanzierungskräfte“ ab 1936 schrittweise einen immer größeren
Einfluss und streben offen eine „Totalausschaltung“ der Kirchen
an. Als wichtigster staatlicher Eingriff während des Krieges ist die Dienstverpflichtung
und Einziehung zum Wehrdienst überdurchschnittlich vieler Pfarrer der BK
zu werten, da auf diese Weise die Arbeitsfähigkeit der betroffenen BK-Gemeinden
in der Regel gravierend eingeschränkt worden ist. Häufig haben Pfarrfrauen
und Vikarinnen die Arbeit in den Gemeinden aufrecht erhalten.
Die Situation im Ruhrgebiet verschärft sich darüber hinaus durch die
weitgehende Zerstörung der städtischen und auch der kirchlichen Infrastruktur,
insbesondere seit den schweren Luftangriffen im Sommer 1943. Unter den Kriegsbedingungen
mit der Evakuierung der meisten Kinder und Jugendlichen und auch vieler jüngerer
Frauen ist an eine geordnete Tätigkeit in den Kirchengemeinden kaum mehr
zu denken. Im wesentlichen bemüht man sich darum, regelmäßig
an Sonn- und Feiertagen Gottesdienste abzuhalten.
Von immer größerer Bedeutung – nicht zuletzt im Blick auf die
Öffentlichkeit – wird die Durchführung der Amtshandlungen. Während
Taufen und Trauungen vor allem in den letzten zwei Kriegsjahren deutlich zurückgehen,
ist seit den starken Bombenangriffen auf das Ruhrgebiet die Zahl der Beerdigungen
dramatisch angestiegen. Während nach den ersten Bombenangriffen auf das
Ruhrgebiet Vertreter der NSDAP oder ihrer Unterorganisationen bei Trauerfeiern
für Zivilopfer präsent sind und mit ihren Ansprachen, Reden und Symbolen
häufig in eine offene Konkurrenz zu der kirchlichen Trauerfeier zu treten
versuchen, ändert sich in den letzten beiden Kriegsjahren die Situation.
Die Partei tritt immer seltener und immer weniger sichtbar bei Trauerfeiern
in Erscheinung, während die Angehörigen bei den Geistlichen um Beistand
nachsuchen.
Bei Kriegsende gehören die Kirchen zu den wenigen handlungsfähigen
Institutionen. Daher werden sie in den ersten Wochen und Monaten nach Kriegsende
zu den wichtigsten Ansprechpartnern der Alliierten auf deutscher Seite. In dieser
Position gelingt es ihnen, Anliegen der Zivilbevölkerung zu artikulieren
und auf bestimmte Missstände – neben der Nahrungssituation werden
diese in den ersten Wochen häufig hervorgerufen durch marodierende befreite
Zwangsarbeiter – hinzuweisen und um Abhilfe zu bitten. Da sehr bald auch
erste Hilfslieferungen von ausländischen Kirchen eintreffen, können
sich die Kirchen auch durch unmittelbare Hilfsaktionen profilieren.
Mindestens ebenso wichtig ist aber die geistliche Orientierung der Kirchen angesichts
der Leere nach dem Untergang des Nationalsozialismus, der für viele Menschen
durchaus eine „politische Religion“ und damit eine letzte Vergewisserung
ihrer Lebensdeutung gewesen ist. In den Jahren zwischen 1945 und 1950 sind die
Kirchen gefüllt wie zu keiner Zeit während des 20. Jahrhunderts, es
werden vielen Nachkonfirmierungen durchgeführt und ein Großteil der
während der NS-Zeit aus den Kirchen Ausgetretenen begehrt den Wiedereintritt.
Auch die Zahl der evangelischen Theologiestudierenden mit dem Berufswunsch „Pfarramt“
erreicht in diesem Jahrfünft einen Höhepunkt.
3. Von der Restitution volkskirchlicher Strukturen nach 1945 zum Aufbau funktionaler Dienste und kirchlicher Projekte im Horizont einer schleichenden Erosion der Volkskirche
3.1. Die auf die Kerngemeinde ausgerichtete Restitution der Volkskirche nach 1945
Unmittelbar nach dem Ende der Kriegshandlungen im Ruhrgebiet
während der Ostertage 1945 versuchen die Kirchenleitung und die Kirchengemeinden
selbst, sehr rasch geordnete kirchliche Zustände wieder herzustellen. Je
nach lokaler Situation werden entweder die DC-Presbyter durch die Zuwahl anderer
Gemeindeglieder, die sich zur Bekennenden Kirche gehalten haben, ersetzt oder
der gemeindliche Bruderrat konstituiert sich dort, wo ohnehin seit einigen Jahren
keine regelmäßigen Presbyteriumssitzungen mehr stattgefunden haben,
als das rechtmäßige Presbyterium. Das Bemühen der Presbyterien
in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zielt zunächst auf den Wiederaufbau
einer geregelten Gemeindearbeit, was unter den Bedingungen der Kriegszerstörung
speziell im Ruhrgebiet außerordentlich schwierig gewesen ist.
Parallel zu dem Wiederaufbau der Gemeinden wird auch die Neuordnung der Kreissynoden
in Angriff genommen. Ähnlich wie in den Gemeinden sind es auch auf dieser
Ebene die Bruderräte, welche die vorläufigen Synoden weithin bestimmen.
Die derart gebildeten vorläufigen Organe der Kirchenleitung konzentrieren
sich zunächst auf eine rechtliche Neuordnung des kirchlichen Lebens, wobei
dem presbyterial-synodalen Aufbau der rheinischen und der westfälischen
Provinzialkirchen entsprechend dieser mit der Ebene der Presbyterien zu beginnen
hat. Als entscheidender Schritt ist hier die bereits 1946 von der westfälischen
Provinzialsynode erarbeitete, von Presbyterien und Kreissynoden verhandelte
und schließlich von der Provinzialsynode verabschiedete Presbyterwahlordnung
zu nennen, welche die Grundlage für die rechtlich begründete Bildung
der weiteren synodalen Leitungsgremien bildet.
Die Presbyterwahlordnung ist von den Erfahrungen und der Theologie der Bekennenden
Kirche geprägt, welche das Ideal der Bekenntnisgemeinde in den Mittelpunkt
stellt. Deutlich erkennbar werden die Erfahrungen des Kirchenkampfs aufgenommen,
insbesondere will man vermeiden, dass in ähnlicher Form, wie es den Deutschen
Christen im Jahr 1933 gelungen ist, kirchenferne Gruppen in Presbyterien und
Synoden eine Mehrheit erringen. Dementsprechend entwirft man eine Presbyterwahlordnung
und darauf aufbauend eine Ordnung der Kirche, die sich ausgehend von der Sammlung
der Gemeinde im Gottesdienst um Predigt und Sakramente konstituiert.
In diesem Sinn verfassen die westfälische und die rheinische Provinzialkirche
im Jahr 1947 ein Proponendum für die Kreissynoden zum Thema „Die
Verantwortung der Kirche für die Gestaltung des gottesdienstlichen Lebens“.
Hier wird eindringlich der Gottesdienst als Versammlung der ganzen Gemeinde
und als Zentrum aller kirchlichen Arbeit verstanden, da nur so „die Gemeindearbeit
vor Zersplitterung und leerer Betriebsamkeit bewahrt“ bleibe. Mit dieser
betonten Ausrichtung auf den Gottesdienst als der Versammlung der ganzen Gemeinde
will man nicht allein ein theologisch-profiliertes Selbstverständnis vertreten,
sondern gleichzeitig ein Gegenmodell zu den „Spaltungs- und Auflösungserscheinungen“
der Gesellschaft setzen.
Das sich in diesen Texten, welche die rechtliche Neuordnung der rheinischen
und der westfälischen Kirche wesentlich geprägt und bestimmt haben,
ausdrückende Ideal der Bekenntnisgemeinde, wie es sich während des
Kirchenkampfes bewährt hat, wird nun für die veränderte Situation
der Nachkriegszeit unmittelbar verbindlich gemacht. Einzelne kritische Stimmen
– so geäußert auf der Bochumer Kreissynode von 1947 –
sehen in der Konzentration auf die Kerngemeinde eine „Überspannung“
bzw. eine „gefährliche sektiererische Verengung“. Andere argumentieren
pragmatischer und problematisieren die deutlich zu Tage tretende Differenzierung
zwischen Gesamtgemeinde und Kerngemeinde, durch welche diejenigen Gemeindeglieder,
die sich nicht im Sinne des Ideals der Bekenntnisgemeinde regelmäßig
zum Gottesdienst halten, brüskiert werden können. Trotz solcher Kritik
setzt sich mehrheitlich die auf die Kerngemeinde bezogene Restitution kirchlichen
Lebens im Zuge der rechtlichen Neuordnung durch.
Im Zuge der Neuordnung des kirchlichen Lebens spielt ein Faktor, der vor 1933
im Ruhrgebiet von besonderer Bedeutung gewesen ist, nur noch eine untergeordnete
Rolle: das kirchliche Vereinswesen. In den Kirchenordnungen werden Vereine als
Randphänomene berücksichtigt, denen eine untergeordnete, auf die Gemeinde
bezogene Funktion zugewiesen wird. Dort, wo das Vereinswesen – etwa im
Bereich der Inneren Mission – eine hohe eigenständige Bedeutung hat,
wird es stärker als bisher in kirchliche Bezüge hineingestellt. Die
Wiederaufnahme einzelner Bereiche der Vereinsarbeit, so etwa die der evangelischen
Arbeitervereine, bleibt weitgehend ohne Unterstützung der Pfarrerschaft
und der Synoden und gelingt nur in eingeschränkter Weise. Auch in dieser
Hinsicht lässt sich im Blick auf den Neuaufbau der evangelischen Kirche
nach 1945 der Eindruck einer „Verkirchlichung“ kaum von der Hand
weisen.
3.2. Die nachlassende Integrationskraft des Protestantismus seit dem Ende der 1950er Jahre
In den Jahren zwischen Kriegsende und 1960 wächst die
Ruhrgebietsbevölkerung noch einmal so stark an wie zur Zeit der Hochindustrialisierung
zwischen 1895 und 1910. Während die Ruhrgebietsbevölkerung während
des Zweiten Weltkrieges zurückging und bei Kriegsende weniger als 4 Millionen
Menschen hier gelebt haben, erreicht die Ruhrgebietsbevölkerung im Jahr
1960 mit 5,5 Millionen Menschen ihren Höhepunkt.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit sind es vor allem Flüchtlinge aus den
ehemaligen deutschen Ostgebieten gewesen, von denen ein beträchtlicher
Teil hofft, sich im Ruhrgebiet ein neues Leben aufbauen zu können. Im Sommer
1947 befinden sich rund 600.000 Flüchtlinge aus den Ostgebieten im Ruhrgebiet,
das ohnehin in überdurchschnittlicher Weise von den Kriegsfolgen betroffen
gewesen ist. Entsprechend dramatisch gestalten sich die Lebens- und Wohnverhältnisse
der Menschen, insbesondere der Flüchtlingsfamilien. Viele dieser Flüchtlinge,
die in der Regel aus ländlichen Gebieten geflohen sind und eine starke
kirchliche Bindung aufweisen, fällt der Neuanfang unter den Bedingungen
des kriegszerstörten Ruhrgebietes sehr schwer.
Trotz der schwierigsten Zeitumstände, der unterschiedlichen lebensweltlichen
Herkunft sowie deutlicher Mentalitätsdifferenzen ist es den Kirchengemeinden
in der Nachkriegszeit in einem beträchtlichen Maße gelungen, Flüchtlinge
und Einheimische in den Kirchengemeinden zu integrieren. An vereinzelten Orten
sind auch im Ruhrgebiet stark von Flüchtlingen geprägte Wohngebiete
und entsprechende Kirchengemeinden entstanden, deren kirchliches Leben sich
jedoch recht bald an die Bedingungen des Ruhrgebiets angeglichen hat. Insbesondere
für die Frauen bedeuten die kirchlichen Angebote – nicht zuletzt
die Frauenhilfen, denen nach wie vor eine grundlegende Bedeutung in allen Gemeinden
zugekommen ist – eine wichtige Hilfe für das Heimischwerden im Ruhrgebiet.
Neben den Flüchtlingen sind in den fünfziger Jahren erneut im großen
Stil Arbeitskräfte für die Montanindustrie des Ruhrgebiets angeworben
worden, die als die Schlüsselindustrien des deutschen Wirtschaftswunders
erhebliche Wachstumsraten zu verzeichnen haben. Angesichts eines permanenten
Arbeitskräftebedarfs werden seit 1955 auch ausländische Arbeitskräfte
angeworben, zunächst aus Südeuropa, seit Anfang der 1960er Jahre auch
aus der Türkei. Neben diesen Zuwanderern sorgt die demographische Entwicklung
für den schnellen Bevölkerungsanstieg in den 1950er Jahren.
Wie bereits vor 1914 reagieren die Kirchen auf diesen Bevölkerungsanstieg
damit, dass sie an dem Ideal überschaubarer Kirchengemeinden festhalten
und dementsprechend durch Neugründungen auf den rapiden Bevölkerungsanstieg
reagieren. Dementsprechend sind die 1950er und die frühen 1960er Jahre
erneut durch eine Vielzahl von Gemeindeneugründungen im Ruhrgebiet und
durch eine entsprechende Bautätigkeit der Kirchengemeinden im Umfeld eines
forcierten Wieder- und Neuaufbaus der Städte geprägt.
Neben Kirchgebäuden sind in dieser Zeit insbesondere viele Gemeindehäuser,
Jugendheime und auch Kindergärten gebaut worden. Die Gemeinden haben auf
diese Weise versucht, ihre Angebote auszuweiten, um die Kontaktmöglichkeiten
mit den Gemeindegliedern zu intensivieren. Bereits im Jahr 1954 werden nämlich
erste Krisendiagnosen laut, die beklagen, dass „die übergreifende
Mehrzahl der evangelisch Getauften ... ohne lebendige Beziehung zur Kirche lebt
und ... am gottesdienstlichen Leben der Gemeinde keinen Anteil“ mehr nimmt.
Für diese fehlende Integrationskraft der Kirchengemeinden wird die zunehmende
„Vermassung“ der Gesellschaft verantwortlich gemacht, wie sie sich
insbesondere im Industriegebiet immer stärker abzeichnet. Demgegenüber
steht die Kirche vor der Aufgabe, die Ortsgemeinden zur Heimat der Christen
werden zu lassen, indem die kirchliche Versorgung intensiviert werden soll.
Um dies zu ermöglichen, hat die westfälische Landeskirche eine „Kirchliche
Aufbauhilfe“ speziell für die Ruhrgebietsgemeinden ins Leben gerufen,
um auf diese Weise einen innerkirchlichen Lastenausgleich herbeizuführen.
Nicht zuletzt dank der „Kirchlichen Aufbauhilfe“ gelingt es seit
der Mitte der fünfziger Jahre, eine Vielzahl neuer kirchlicher Bauten im
Ruhrgebiet zu realisieren. Die Kirchbauten jener Jahre sind dadurch gekennzeichnet,
dass die Vorbilder der historistischen Sakralarchitektur, welche die Bauten
um die Jahrhundertwende weitgehend bestimmt haben, vollständig aufgegeben
werden. Die Kirchbauten der 1950er und 1960er Jahre sind durch einfache geometrische
Formen gekennzeichnet und haben weitgehend die modernen Baumaterialien –
vorrangig Stahl und Beton – verwendet. Die meisten der in jener Zeit gebauten
Kirchen sind reine Sakralbauten, welche eine Distanz zur Alltagswelt kennzeichnet,
die jedoch ebenso – symbolisiert häufig durch große Glasfenster
– eine Öffnung zum alltäglichen Leben ausdrücken und auf
diese Weise transparent und einladend wirken. Den Innenraum dieser Kirchen bestimmen
weitgehend kubische Formen, wobei in unterschiedlicher Weise die theologische
Zielbestimmung der Konstituierung der Gemeinde als Gemeinschaft zum Ausdruck
kommen soll. Mit diesen Stilelementen sollen die neuen Kirchbauten das zentrale
theologische Anliegen, die Schaffung von Heimat und gemeinschaftlicher Verbundenheit,
fördern. Neben den Kirchbauten gewinnt in jener Zeit der Bau von Gemeindezentren
eine immer größere Bedeutung und ersetzt zum Teil die Kirche. Indem
die Funktionalität kirchlichen Bauens – vor allem seit den 1960er
Jahren – immer mehr in den Mittelpunkt gestellt wird, sieht man das Gemeindezentrum
als die Lösung an, die einerseits die Anforderungen des Zweckbaus für
Gemeindeveranstaltungen am besten erfüllt, gleichzeitig aber auch für
kirchliche Feiern und speziell für Gottesdienste genutzt werden kann.
Auch wenn sich die Kirchen somit organisatorisch und durch ihre bauliche Präsenz
auf die Wandlungen der Zeit eingestellt haben, wird die schwindende Integrationskraft
der Kirchen bereits Ende der 1950er Jahre immer deutlicher erkannt. Vor diesem
Hintergrund ist das Proponendum der rheinischen Kirchenleitung aus dem Jahr
1959 „Was hat in den Gemeinden zu geschehen, damit sie den Aufgaben gerecht
werden, die ihnen heute gestellt sind“ zu verstehen. Defizite der kirchlichen
Präsenz werden selbstkritisch wahrgenommen und es beginnt eine erste Phase
des Experimentierens und Suchens nach neuen Wegen der kirchlichen Arbeit. Einzelne
Synoden fordern eine Rückbesinnung auf die missionarische Kompetenz der
Kirche.
Im Kontext dieser Diskussionen wird erstmals die auf die Kerngemeinde zentrierte
Neuordnung der Kirche nach 1945 in Frage gestellt, etwa wenn der Oberhausener
Superintendent Munscheid in seinem Jahresbericht vor der Kreissynode von 1964
kritisch fragt, ob und inwieweit „unser parochiales Gemeindeleben bei
der sich rapide wandelnden Gesellschaft noch irgendeine Verheißung“
habe. Hinter diesem Hinweis steht die seinerzeit intensiv geführte Diskussion
um sog. „Paragemeinden“ bzw. funktionale kirchliche Dienste, bei
denen es sich um neue Formen christlicher Gruppen und Gemeinschaftsbildung handelt,
die sich z.T. nur kurz- oder mittelfristig auf Grund ähnlicher Lebenssituationen
oder gemeinsamer Aufgaben in Politik und Gesellschaft bilden. Angesichts des
Funktionsverlusts der Parochie, wie er insbesondere durch die fortschreitende
Mobilisierung der Gesellschaft und auch durch den zunehmenden Einfluss massenmedialer
Kommunikation hervorgerufen wird, sollen solche neuen Formen von Gemeinde über
die Ortsgemeinde hinaus kirchliche Präsenz in der Öffentlichkeit zum
Ausdruck bringen.
Neben der Selbstkritik angesichts mangelnder Integrationsfähigkeit der
Gemeinden werden auch in der Öffentlichkeit kirchenkritischere Stimmen
seit der Endphase der 1950er Jahre immer lauter. So gerät die Kirche mit
bestimmten kulturellen Trends in einen Konflikt, wie vor allem Auseinandersetzungen
um Fragen der Jugendkultur und der Sexualität zeigen. Solche Konfliktlinien,
verbunden mit der Infragestellung der kirchlichen Autorität für bestimmte
Lebensbereiche, lassen den westfälischen Präses Ernst Wilm im Jahr
1964 davon sprechen, dass „die Schonzeit“ für die Kirche vorbei
sei.
Im Ruhrgebiet sind ausgehend von den beginnenden Kirchenreformdiskussionen seit
der zweiten Hälfte der 1950er Jahre verschiedene funktionale kirchliche
Dienste entwickelt worden. So entsteht an manchen Orten eine neue Form kirchlicher
Erwachsenenbildung, die sich etwa in Bochum zu einer eigenständigen evangelischen
Stadtakademie und anderen vielbeachteten Formen kirchlicher Bildungs- und Beratungsarbeit
entwickelt hat. Neben solchen Bildungs- und Beratungsangeboten hat sich im Ruhrgebiet
bereits unmittelbar seit Kriegsende eine neue Form kirchlicher Präsenz
in der Arbeitswelt herausgebildet, die – gemeinsam mit der katholischen
Kirche entwickelt und durchgeführt – als „Gemeinsame Sozialarbeit
der Konfessionen“ bis heute von Bedeutung ist.
3.3. Die öffentliche Verantwortung der Kirchen und der Aufbau arbeitsweltbezogener kirchlicher Dienste: Zur Entwicklung eines sozialethischen Profils des Ruhrgebietsprotestantismus
Der Aufbruch zu einer öffentlichen kirchlichen Verantwortung
nach Kriegsende drückt sich auch darin aus, dass die rheinische und die
westfälische Kirche bzw. ihre bereits 1946 neu gebildeten Sozialausschüsse
sich intensiv mit wirtschaftlichen und sozialpolitischen Fragen befassen. Nach
der Konstituierung der Bundesrepublik ist insbesondere die Frage der Mitbestimmung
der Arbeitnehmer in der Industrie heftig umstritten. Die evangelischen Landeskirchen
versuchen, Arbeitsgeber wie Arbeitnehmer „auf ihre sittliche Verantwortung
dem anderen Partner gegenüber wie für das gesamte Volk, mit größtem
Nachdruck“ hinzuweisen. Als den wichtigsten christlichen Beitrag zur Gestaltung
der Wirtschaft versteht man in dieser Perspektive die Wahrung der Menschlichkeit
im Arbeitsleben. Engagiert macht man auf den Betrieb als soziales Gefüge
aufmerksam und beschreibt eindringlich die Gefahren einer Degradierung des Menschen
zum bloßen Produktions- und Kostenfaktor. Diese Überlegungen stehen
schließlich auch im Mittelpunkt der auf dem Essener Kirchentag von 1950
bekannt gegebenen Ratserklärung der EKD zur Frage der Mitbestimmung, die
das Ziel der Mitbestimmung darin gesehen hat, den sozialen Frieden zu sichern,
ein gegenseitiges Verständnis der Tarifparteien zu wecken und das reine
Lohnarbeitsverhältnis zu überwinden.
Mit solchen Stellungnahmen hat sich die evangelische Kirche in der Nachkriegszeit
als Anwalt zur Verbesserung der sozialen Beziehungen im Arbeits- und Wirtschaftsgeschehen
profiliert. Es dominiert dabei das Bemühen um den menschlichen Aspekt der
Arbeitsgestaltung. Demgegenüber hat man die rechtliche Ausgestaltung etwa
von Mitbestimmungsregelungen im Grundsatz zwar gefordert, die konkreten Forderungen
der Gewerkschaftsbewegung aber nur bedingt aufgegriffen. Dementsprechend bleibt
das Verhältnis zu den Gewerkschaften zunächst gespannt, während
Unternehmer nach und nach den besonderen Beitrag der Kirchen zur Verbesserung
der betrieblichen Beziehungen entdecken und die Kirchen zur Kooperation einladen.
Dies gilt insbesondere für den Vorsitzenden der Deutschen Kohlenbergbauleitung,
Heinrich Kost, der zum entscheidenden Anreger der „Gemeinsamen Sozialarbeit
der Konfessionen“, einer ersten institutionalisierten kirchlich-pastoralen
Begleitung der Arbeitswelt im Ruhrgebiet, geworden ist.
Deren Entstehung verdankt sich einer günstigen Konstellation: die von den
Kirchen entwickelte Perspektive einer Verbesserung der menschlichen Zusammenarbeit
in den Betrieben stößt gerade im Steinkohlenbergbau der Nachkriegszeit
auf eine breite Resonanz, da sich dort aus verschiedenen Gründen Probleme
im Blick auf das Betriebsklima häufen. Aufgrund der überragenden Bedeutung
des Ruhrbergbaus für die wirtschaftliche Entwicklung im Nachkriegsdeutschland
hat die Anzahl der beschäftigten Bergleute bereits Mitte 1947 den Vorkriegsstand
von rund 350.000 Bergleuten übertroffen. Bereits Ende 1948 ist die Zahl
auf über 400.000 angestiegen, um dann in den fünfziger Jahren moderat
weiter anzusteigen. Diese Entwicklung der Beschäftigtenzahlen ist allerdings
von einer überaus hohen Fluktuationsrate geprägt: so sind zwischen
1945 und 1954 insgesamt 800.000 Bergleute angeworben worden, von denen jedoch
weniger als 200.000 auf Dauer im Bergbau geblieben sind. Auf diese Weise sinkt
der Anteil der Stammbelegschaften einiger Schachtanlagen auf unter 20%, so dass
relativ wenige erfahrene Bergleute die Belegschaften bilden. Es entwickeln sich
zum Teil recht scharfe Spannungen zwischen den Alt- und den Neubergleuten: verschiedene
bergbauliche Traditionen, wie etwa das Kameradschaftsgedinge, aber auch die
recht starke parteipolitische und gewerkschaftliche Verankerung spielen für
die Neubergleute zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Die Defizite des
Betriebsklimas drücken sich neben der extrem hohen Fluktuation auf den
Schachtanlagen in einer hohen Fehlschichtenquote aus, die Ende der vierziger
Jahre bei 17 - 20% liegt.
Dieser Problemdruck sowie die tiefe persönliche Überzeugungen einer
besonderen Verantwortung als Christ im Berufsleben lassen Heinrich Kost Kontakte
zu den Kirchen im Ruhrgebiet suchen. Kost bittet für die Bergbautagung
im Oktober 1948 Joseph Höffner, seinerzeit Professor am katholischen Priesterseminar
in Trier, und den Hannoverschen Landesbischof Johannes Lilje um Referate und
erhofft sich durch den Kontakt zu den beiden großen Kirchen Impulse für
eine Verbesserung des menschlichen Miteinanders im Bergbau.
Nach dem positiven Eindruck der beiden Kirchenvertreter bemüht sich Kost
um eine Vertiefung der Kontakte zwischen der Bergbauleitung und den Kirchen
im Ruhrgebiet mit dem Ziel, einen breiten Diskussionsprozess anzuregen, der
eine „Neue Sozialordnung“ im Bergbau entwickeln soll. Auf Seiten
der westfälischen Kirche ist seit Anfang 1949 Klaus von Bismarck als Leiter
des Sozialamtes in Schwerte-Villigst mit der „Betreuung der Bergarbeiterläger
im Industriegebiet“ betraut. Sehr schnell ergibt sich ein Kontakt zu Franz
Hengsbach, dem Leiter des Erzbischöflichen Seelsorgeamtes des Katholischen
Sozialinstituts der Kommende. Durch Hengsbach vermittelt wird von Bismarck in
die Kontakte zu Heinrich Kost einbezogen. Alle drei stimmen darin überein,
dass die „Entscheidung über eine der wichtigsten Sozialfragen unserer
Zeit, nämlich ob es gelingt, die arbeitsteilige Funktion in den industriellen
Betrieben wieder menschlich zu gestalten und wieder eine gute Zusammenarbeit
der Sozialpartner herbeizuführen, ... im Ruhrgebiet und vor allem in seiner
wichtigsten Grundstoffindustrie, dem Kohlenbergbau“ fällt.
Im Herbst 1950 startet mit Tagungen in der Kommende und in Haus Villigst die
Arbeit der „Gemeinsamen Sozialarbeit“. Es handelt sich um Gesprächstagungen
unterschiedlicher Hierarchieebenen. Der Erfolg der GSA liegt wesentlich darin
begründet, dass man sich in einer vorrangig pragmatischen Perspektive um
eine Verbesserung der Kommunikation und der Zusammenarbeit in den Unternehmen
bemüht. Dieser Intention liegt durchaus ein gesellschaftspolitisches Leitbild
zugrunde: es ist dies die Idee der Sozialpartnerschaft, wie sie vor allem in
der Sozialethik der beiden Kirchen in den fünfziger Jahren vertreten worden
ist.
Für die Betroffenen sehr überraschend setzt mit dem Beginn der ersten
Kohlenkrise im Jahr 1958 der Strukturwandel im Ruhrgebiet mit einem langandauernden
Abschied von der Montanindustrie ein. Stehen in den 1960er Jahren zunächst
die Zechenschließungen im Mittelpunkt öffentlicher Auseinandersetzungen,
sind die 1970er und insbesondere die 1980er Jahre von dem dramatischen Rückgang
der Arbeitsplätze in der Stahlindustrie bestimmt. Dieser Strukturwandel
seit den frühen 1960er Jahren ist gegen den Widerstand der Belegschaften
und der großen Mehrheit der Ruhrgebietsbevölkerung durchgesetzt worden.
Dieser Wandel fordert von den betroffenen Menschen enorme Anpassungsleistungen
und verursacht vielfach, insbesondere durch die Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit
bei geringer qualifizierten Menschen, soziales Elend. Die durchschnittliche
Ruhrgebietsbevölkerung trägt bis heute die Hauptlasten des Strukturwandels:
den Zwang zum ständigen Lernen, die Nötigung, das Veralten von Wissen
und technischen Fähigkeiten zu ertragen und vor allem die Freisetzung derer,
deren Wissen und Qualifikationen auf dem Arbeitsplatz nicht mehr nachgefragt
werden.
Die evangelische Kirche im Ruhrgebiet hat mit ihren institutionellen Möglichkeiten
diesen Prozess des Wandels begleitet, sich für das Ruhrgebiet engagiert
und dabei ihren Platz – so die Ruhrgebietssuperintendenten – „an
der Seite der von diesen Prozessen verunsicherten Menschen“ gesehen. In
den meisten Fällen haben sich bei angekündigten Zechenschließungen
wie auch bei angedrohten Schließungen der Stahlwerke die Ortsgemeinden
und ihre Pfarrer – zumeist auch die Kreissynoden – unmittelbar mit
den von Betriebsschließungen bedrohten Belegschaften solidarisiert. Durch
diese breite Unterstützung gelingt es den Belegschaften und den politisch
Verantwortlichen, eine breite Öffentlichkeit auch über das Ruhrgebiet
hinaus zu mobilisieren, um die Maßnahmen des Strukturwandels möglichst
sozialverträglich zu gestalten.
Der Ruhrgebietsprotestantismus hat den Strukturwandel im Ruhrgebiet als Herausforderung
begriffen und insbesondere den Verlierern der ökonomischen Wandlungsprozesse
beizustehen versucht. Durch direkte diakonische Unterstützung, durch seelsorgerliche
Betreuung und Beratung, durch öffentliches Engagement wie auch durch eigene
Beiträge zum Strukturwandel hat der Ruhrgebietsprotestantismus seinen Beitrag
zum Strukturwandel geleistet. Allerdings wird man kritisch einwenden können,
dass die kirchlichen Stellungnahmen wie auch das kirchliche Handeln weitgehend
von einer reaktiven Haltung bestimmt sind. In nahezu allen Fällen hat man
auf die Wandlungsprozesse defensiv reagiert und sich dabei in der Regel für
eine Sicherung des Bestehenden ausgesprochen. Ermutigungen, den Wandel positiv
mitzugestalten finden sich dem gegenüber nur am Rande der entsprechenden
Verlautbarungen.
3.4 Der Ruhrgebietsprotestantismus vor der Herausforderung einer kontinuierlich rückläufigen Mitgliederentwicklung
Während die Bevölkerungsentwicklung und damit auch
die Mitgliederentwicklung der evangelischen Kirche im Ruhrgebiet seit dem Beginn
der Industrialisierung bis in die 1960er Jahre hinein von einem starken, teilweisen
rasanten Wachstum geprägt gewesen ist, verliert das Ruhrgebiet insgesamt,
deutlich stärker jedoch der Protestantismus, seit 1970 kontinuierlich Menschen.
Zählten zum Beispiel die Vereinigten Kirchenkreise Dortmund im Jahr 1980
noch ca. 365.000 Mitglieder, so sind es im Jahr 2000 nur noch rund 275.000 Menschen.
Dortmund liegt prozentual gesehen an der Spitze der rückläufigen Mitgliederentwicklung:
statistisch geht man derzeit von einer Minderung der Gemeindegliederzahlen von
ca. 15% in einem Jahrzehnt aus. Ähnlich ist die Situation in den anderen
Ruhrgebietskirchenkreisen, die gegenwärtig mit einem Mitgliederverlust
von 10 – 14% pro Jahrzehnt rechnen. Innerhalb der Evangelischen Kirche
von Westfalen zeichnet sich die generell rückläufige Mitgliederentwicklung
in den Ruhrgebietssynoden am dramatischsten ab. Überblickt man den größeren
Zeitraum von 1970 bis zur prognostizierten Entwicklung im Jahr 2015 ist durchschnittlich
von einer Halbierung der Gemeindegliederzahlen im Ruhrgebiet auszugehen.
Für diese dramatische Entwicklung sind mehrere Faktoren ausschlaggebend.
Bereits in den 1960er Jahren haben in allen Ruhrgebietssynoden die Zahlen der
Kirchenaustritte diejenigen der Eintritte übertroffen. Seit den 1970er
Jahren hat sich das negative Saldo von Austritten und Eintritten auf einem relativ
hohem Niveau verfestigt, wobei insbesondere zu Beginn der 1970er und 1990er
Jahre in hohem Maße Mitgliederverluste zu verzeichnen gewesen sind. Neben
dieser abnehmenden Traditionsbindung sind aber auch allgemeine demographische
Entwicklungen im Ruhrgebiet für den Mitgliederrückgang der evangelischen
Kirche ausschlaggebend. Das Ruhrgebiet verliert seit den 1970er Jahren kontinuierlich
Bevölkerungsanteile an das Umland. Ein weiterer Hauptgrund für die
negative Mitgliederentwicklung sind die hohen Sterbeüberschüsse gegenüber
den Geburten, welche die evangelische Kirche im Ruhrgebiet stärker als
den Katholizismus und stärker als die ausländische Wohnbevölkerung
trifft. Das Zusammenspiel dieser drei Faktoren verursacht die eingangs skizzierte
dramatische Mitgliederentwicklung, welche die evangelische Kirche im Ruhrgebiet
nach mehr als 150 Jahren des starken Bevölkerungs- und Mitgliederwachstums
vor die völlig neue Herausforderung stellt, die in den letzten Jahrzehnten
aufgebauten Gemeinde- und Verwaltungsstrukturen nunmehr der rückläufigen
Entwicklung anzupassen. Dominierten in den Jahrzehnten zuvor Gemeindeneugründungen
und Auspfarrungen, so kommt es nun darauf an, Gemeinden in einer möglichst
organischen Weise zusammen zu legen und dabei nicht zuletzt auch kirchliche
Gebäude aufzugeben.
Trotz dieses Mitgliederrückgangs und einer entsprechend negativen Finanzentwicklung
ist der Ruhrgebietsprotestantismus nach wie vor von einer erstaunlichen Innovationsfähigkeit
geprägt. Innovative Projekte werden insbesondere im Kulturbereich, in den
Projekten zum gemeinsamen Leben mit ausländischen Mitbürgern sowie
in der Diakonie entwickelt. Für diese Arbeitsfelder lassen sich jeweils
herausgehobene Einzelprojekte mit einer größeren Ausstrahlungskraft
anführen, jedoch auch eine Vielzahl alltäglicher, in der Lebenswelt
der Menschen verwurzelter Initiativen, die, wenn auch nicht immer spektakulär,
eine hohe Bedeutung für die Qualität des Zusammenlebens besitzen.
Die kirchlichen Kulturprojekte konzentrieren sich auf einzelne Innenstadtkirchen,
die nicht mehr oder kaum noch von Gemeinden genutzt werden können und für
die daher neue Nutzungskonzepte entwickelt werden. In der Essener Innenstadt
ist es die Marktkirche, welche für die Stadtkirchenarbeit zur Verfügung
steht. Schwerpunkt dieser Arbeit sind die Organisation von Kunstausstellungen,
Konzerte sowie öffentliche Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen. In
ähnlicher Weise wird in Bochum seit wenigen Jahren die zentrale Innenstadtkirche,
die Christuskirche, genutzt. Seit dem Ruhrgebietskirchentag 1991 existiert im
Kirchenkreis Dortmund-Mitte eine „Arbeitsstelle Kirche und Kultur“
, die seither thematische Projekte in Zusammenarbeit mit Künstlern, Kulturinstitutionen
und freien Kulturträgern durchführt. Das Zentrum der Arbeit ist die
alte gotische Stadtkirche St. Petri, wo Ausstellungen veranstaltet oder auch
moderne Formen des Tanztheaters inszeniert werden. Ein besonderer Reiz dieser
Veranstaltungen liegt darin, dass hier bewusst der Dialog einer von der Kirche
emanzipierten Kunst mit einem sakral bestimmten Raum gesucht wird. Solche Veranstaltungen
sind nicht unumstritten geblieben und haben – so an der Dortmunder Petrikirche
– die vollständige Aufgabe der Kirche durch die Ortsgemeinde provoziert.
An anderen Orten, etwa in der Melanchthon-Kirche in Bochum, gelingt es, das
komplexe Beziehungsgefüge von sakralem Gottesdienstraum, modernen künstlerischen
Inszenierungen und der den Gottesdienst feiernden Gemeinde in eine produktive
Balance zu bringen.
Neben solchen ambitionierten Kulturprojekten sind in den letzten Jahren speziell
im Bereich neuerer Kirchenmusik eine Vielzahl von Initiativen entstanden, die
gemeindenah Menschen zur aktiven Mitarbeit motivieren. Beispielhaft kann hier
das Projekt „Creative Kirche“ im Kirchenkreis Hattingen-Witten genannt
werden, das durch die Gründung mehrerer Chöre – vor allem im
Bereich der Gospelmusik – und die Entwicklung neuer Gottesdienstformen
zu einer festen Größe im Leben des Kirchenkreises geworden ist. Die
positive Resonanz dieses und ähnlicher Projekte hat zu einer regelrechten
Gospelchorbewegung im Ruhrgebiet geführt, wie sie im September 2002 durch
den Gospelkirchentag in Essen auch für eine breitere Öffentlichkeit
sichtbar geworden ist.
In der traditionellen Einwanderungsregion des Ruhrgebiets besteht eine lange
Tradition des Umgangs mit Fremden im Zeichen des Bemühens um Integration.
Eine neue Herausforderung für die Integration stellen die seit 1955 angeworbenen
Gastarbeiter dar, nicht zuletzt die seit 1961 aus der Türkei und seit 1965
aus Tunesien und Marokko angeworbenen Arbeitsmigranten muslimischen Glaubens.
Der ausländische Bevölkerungsanteil beträgt z.B. in Duisburg
mehr als 15%, in den übrigen großen Städten des Ruhrgebiets
liegt diese Rate zwischen 11 und 14%. Knapp 40% von ihnen sind Muslime, wobei
die lokale Verteilung höchst ungleich ist und in einzelnen Ruhrgebietsgemeinden
der Anteil der muslimischen Bevölkerung bei knapp 50% liegt, so etwa in
Duisburg-Marxloh oder in bestimmten Stadtteilen des Dortmunder Nordens. Diese
Situation hat vereinzelt zu Konflikten, aber auch zu einer Vielzahl von christlich-muslimischen
Begegnungsinitiativen im Ruhrgebiet geführt. Auslöser öffentlichkeitswirksamer
Konflikte ist an verschiedenen Orten der Wunsch eines Moscheevereinswesen gewesen,
den lautsprecherverstärkten islamischen Gebetsruf – den sog. Azan-Ruf
– einzuführen. Häufig haben sich verschiedene Bürgerinitiativen,
z. T. politische Parteien und in einem Fall auch eine evangelische Kirchengemeinde
öffentlich gegen diesen Wunsch ausgesprochen. Das Presbyterium der evangelischen
Kirchengemeinde Duisburg-Laar hat Anfang 1997 mit einer Anzeige „Kein
öffentlicher islamischer Gebetsruf“ in verschiedenen Zeitungen gegen
den Gebetsruf mobil gemacht und in scharfer Weise die Differenz zwischen Christen
und Muslimen herausgestellt. Allerdings bleiben solche Voten eindeutige Ausnahmen,
während die kirchenleitenden Gremien Verständigungsbereitschaft im
Dialog mit Moscheevereinen und Toleranz gegenüber Andersgläubigen
einfordern. Auf der Ebene vieler Kirchengemeinden wird diese Haltung praktiziert,
an verschiedenen Orten ist darüber hinaus ein intensives christliches-islamisches
Dialogprogramm entstanden. In Marl existiert seit 1985 eine christlich-islamische
Arbeitsgemeinschaft, die gemeinsame sozialpolitische Anliegen der Bevölkerung
thematisiert, darüber hinaus jedoch auch christlich-islamische Feiern und
vor allem eine Würdigung der Feste der beiden Religionen in den Mittelpunkt
ihrer Arbeit stellt. Bei diesen Veranstaltungen werden insbesondere die Gemeinsamkeiten
der abrahamitischen Religionen herausgestellt, um ein gemeinsames Zusammenleben
und Zusammenarbeiten in der alltäglichen Lebenswelt zu fördern. Ohne
die Unterschiede zwischen den Religionen zu verwischen, sollen beide Seiten
die religiösen Traditionen des anderen besser kennen und tolerieren lernen.
Allerdings muss, trotz verschiedener Beispiele solcher christlich-muslimischen
Dialogbemühungen, einschränkend festgehalten werden, dass nach wie
vor ein unverbindliches Nebeneinander und eine Distanz das Verhältnis von
evangelischen Kirchengemeinden und islamischen Moscheegemeinden in der alltäglichen
Lebenswelt prägt.
In besonderer Weise ist schließlich die Diakonie von den ökonomischen
und sozialkulturellen Wandlungsprozessen des Ruhrgebiets betroffen. Neben dem
bereits erwähnten neuen Aufgabenfeld der Hilfen für Arbeitslose, die
sich von Beratungs- und Qualifizierungsangeboten bis hin zur Trägerschaft
für Einrichtungen des zweiten Arbeitsmarktes erstreckt, ist seit den 1970er
Jahren vor allem auch der Kernbereich diakonischer Arbeit auf der Gemeindeebene
vor völlig neue Herausforderungen gestellt worden. Die klassische Form
der Gemeindediakonie, wie sie seit dem 19. Jahrhundert durch Diakonissen getragen
worden ist, gerät spätestens in den 1960er Jahren in eine tiefe Existenzkrise.
Seit jener Zeit haben sich nur noch wenige Frauen für das Diakonissenamt
entschieden. So sind zu Beginn der siebziger Jahre im Bereich des Gemeindeverbandes
Bottrop nur noch drei ältere Gemeindeschwestern tätig gewesen, welche
die Versorgung kranker und pflegebedürftiger Menschen im häuslichen
Bereich nicht in ausreichender Weise haben gewährleisten können. Da
die Situation in nahezu allen Ruhrgebietssynoden sehr ähnlich gewesen ist,
hat sich seit Mitte der 1970er Jahre eine völlige Neuordnung der Gemeindepflege
– nicht allein im Ruhrgebiet, sondern im gesamten Bereich der evangelischen
Landeskirchen – entwickelt, die sich auf den Aufbau von Diakoniestationen
konzentriert hat. Mit Hilfe der Diakoniestationen versucht man, kranken- und
sozialpflegerische Dienste in einer überschaubaren Region zu bündeln
und diese Arbeitsbereiche professionell zu organisieren.
Angesichts der demographischen Situation im Ruhrgebiet kommt schließlich
dem Bereich der diakonischen Altenarbeit eine zunehmende Bedeutung zu. Neben
den traditionellen Pflegeheimen sind speziell in den letzten zehn Jahren für
immer mehr ältere Menschen, die einerseits durch die Hilfen der Diakoniestationen
allein nicht mehr versorgt werden können, die aber andererseits noch eine
weitgehend selbständige Lebensführung aufrechterhalten wollen, verschiedene
Formen „betreuten Wohnens“ entwickelt und realisiert worden. Ein
wichtiger Gesichtspunkt bei der Gründung solcher Wohnprojekte ist die Beobachtung
gewesen, dass die älteren Menschen in der Regel ihre vertraute Umgebung
nicht verlassen möchten. Dementsprechend bemüht sich die Diakonie
darum, neue Formen diakonischer Altenarbeit zu entwickeln, welche den einzelnen
ein weitgehendes Recht auf Privatsphäre und Selbstbestimmung einräumen.
Wegweisend ist ein Projekt in Mülheim geworden, das eine Anlage für
altengerechtes Wohnen mit Wohnungen für behinderte Menschen und Familien
mit Kindern in einer architektonisch sehr ansprechende Gestaltung verbindet.
Der integrative Aspekt dieser Wohnform, der Kontakte zwischen Menschen unterschiedlicher
Lebenssituationen ermöglicht, sowie die Überschaubarkeit der Anlage
haben bei allen Beteiligten für eine hohe Akzeptanz gesorgt.
Ausblick
Wie dieser kurze Überblick über neuere Formen kirchlicher
Kultur-, Integrations- und Diakonieprojekte zeigt, werden in den Gemeinden und
Kirchenkreisen des Ruhrgebiets allgemeine kirchliche und gesellschaftliche Herausforderungen
aufgegriffen und es wird nicht zuletzt durch besondere Initiativen auf die speziellen
Herausforderungen des alltäglichen Lebens im Ruhrgebiet reagiert. Beispielhaft
ist für die meisten dieser Initiativen die Form des Projektes. Projekte
leben von der aktiven Beteiligung der Betroffenen, sind zeitlich häufig
begrenzt und durch eine klare thematische Fokussierung bestimmt. Daher sind
diese Projekte in besonderer Weise mit der Aufgabe einer inhaltlichen Selbstklärung
konfrontiert. Dabei ist insbesondere der Zusammenhang mit den anderen Handlungsformen
der Kirche zu klären, um die Angebotsstruktur sowie die Erwartungen und
Bedürfnisse der Gemeindeglieder aufeinander beziehen zu können. Es
besteht vor allem in einem Ballungsgebiet wie dem Ruhrgebiet die große
Chance, durch eine regionale Profilbildung die einzelnen Projekte und Reforminitiativen
je nach Bevölkerungssituation und sozialstruktureller Entwicklung zu bündeln.
Einen ersten Schritt in diese Richtung hat der Kirchenkreis Dortmund-West gewagt,
der eine Analyse der Bevölkerungsstruktur, deren Erwartungen sowie die
derzeitigen Schwerpunkte in den Gemeinden abgeglichen hat, um auf dieser Basis
die Stärken des Angebots, aber auch Defizite zu erheben und darauf durch
neue Angebote reagieren zu können. Auf der Grundlage dieser Analysen haben
sich als neue Aufgabenschwerpunkte die Arbeit mit 30- bis 50jährigen sowie
die Errichtung eines Trauerzentrums ergeben, die jeweils durch Schwerpunktpfarrstellen
unterstützt werden.
Die Herausbildung einer „Projektkirche“ markiert die jüngste
Etappe der Transformationsprozesse des Ruhrgebietsprotestantismus. Die Projektstruktur
ist der gegenwärtig überzeugendste Versuch, auf die strukturellen,
sozialkulturellen und demographischen Wandlungen des Ruhrgebiets adäquat
zu reagieren. Trotz der Erosionserscheinungen bleibt die volkskirchliche Struktur
der notwenidge Rahmen und auch das Bezugsfeld dieser Projekte. Es ist zu hoffen,
dass die Erfahrungen der Projektkirche den volkskirchlichen Strukturen neue
Impulse vermitteln und mittelfristig neuartige Formen kirchlicher Präsenz
in der Region des Ruhrgebiets institutionalisieren.
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