Leitartikel der Jahresausgabe 2003

Anstaltskirche – Vereinskirche – Volkskirche – Projektkirche:
Transformationsprozesse des Ruhrgebietsprotestantismus seit der Industrialisierung
Traugott Jähnichen

Einleitung

Der Ruhrgebietsprotestantismus hat in der Zeit zwischen der beginnenden Industrialisierung seit den 1850er Jahren bis zur Gegenwart tiefgreifende Wandlungen erfahren. In einem ersten Schritt entwickelt sich die evangelische Kirche von einer behördlich geprägten Anstaltskirche seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Volkskirche mit einem weit verzeigten Vereinswesen. Dieses Modell gerät in der Zeit des Nationalsozialismus in eine Krise, nicht zuletzt deshalb, weil sich Teile des Vereinswesens als anfällig für die deutsch-christlichen Syntheseversuche von Christentum und Nationalsozialismus erweisen. Die Bekennende Kirche, die im Ruhrgebiet einen starken Rückhalt besitzt, reagiert auf diese Situation mit einer Konzentration auf die Aufgabe der Verkündigung und damit auf das gottesdienstliche Leben der Kerngemeinden.
Nach 1945 lässt sich der Prozess einer Verkirchlichung des Ruhrgebietsprotestantismus feststellen. Einerseits konzentriert sich das kirchliche Leben zusehends auf die Kerngemeinde, andererseits werden Aufgabenfelder, die zuvor von freien Vereinen wahrgenommen worden sind, von Pfarrern und anderen kirchlichen Dienstträgern übernommen. Es entsteht eine Vielzahl von Funktionspfarrstellen sowie neuartiger kirchlicher Projekte, mit denen der Protestantismus auf den Prozess der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung reagiert. Im Ruhrgebiet entwickelt sich insbesondere ein beachtliches sozialkirchliches Engagement: neben dem Aufbau neuer Formen betriebsbezogener Arbeit bildet die Begleitung des krisenhaften Strukturwandels einen Schwerpunkt dieses Arbeitszweiges. Gegenwärtig durchlebt der Ruhrgebietsprotestantismus auf Grund der demographischen Entwicklung sowie der abnehmenden kirchlichen Bindungen eine Erosion und es stellt sich erneut die Frage nach einer Transformation der kirchlichen Präsenz.

1. Von der Anstalts- zur Volkskirche: Die Neukonstituierung der Evangelischen Kirche im Ruhrgebiet im Horizont der Gemeindereform- und der Vereinsbewegung im Kaiserreich

1.1. Die konsequente Durchführung des Parochialprinzips durch Auspfarrungen und Gemeindeneugründungen in Verbindung mit dem Aufbau eines evangelischen Vereinswesens

Die Lebenswelt des Ruhrgebiets ist speziell seit den 1870er Jahren von einer rasanten Industrialisierung sowie einer entsprechend schnell ansteigenden Bevölkerungsentwicklung geprägt. Da die entstehenden Industrien insbesondere auf die Zuwanderung auswärtiger Arbeitskräfte angewiesen sind, entwickelt sich das Ruhrgebiet in dieser Zeit zu einer klassischen Einwanderungsregion. Vor Beginn der Industrialisierung im Jahr 1820 lebten im Ruhrgebiet etwa 270.000 Menschen. Bereits 1873 wird die Grenze von 1 Million Einwohnern überschritten, bis zum Jahr 1897 verdoppelt sich die Einwohnerzahl und steigt bis 1910 auf rund 3,5 Millionen Menschen an, die 4 Millionen-Grenze wird im Jahr 1922 erreicht. Eine solche Bevölkerungsentwicklung - speziell zwischen 1870 und der Mitte der 1920er Jahre sowie noch einmal zwischen 1950 und 1960 - übertrifft die Zuwachsraten aller anderen deutschen Ballungsgebiete und Großstädte. Als größte Industrieregion Europas stellt das Ruhrgebiet noch heute im wesentlichen eine wirtschaftliche und kaum eine politische oder kulturelle Einheit dar.
Trotz des kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufschwungs seit der Mitte der 1870er Jahre und einer Vollbeschäftigung, die es Arbeitnehmern ermöglicht, relativ häufig den Arbeitsplatz auf der Suche nach besseren Arbeits- und Lohnbedingungen zu wechseln, bleibt die soziale Lage der Industriearbeiterschaft noch lange Zeit prekär. Sie beginnt sich allmählich seit der Mitte der 1890er Jahre zu stabilisieren, als die Löhne kontinuierlich ansteigen, jedoch noch deutlich hinter der Lohnentwicklung anderer Industrienationen zurückbleiben. Diese soziale Situation führt zu mehreren größeren Streikwellen der Ruhrbergarbeiterschaft, wobei die Streiks von 1889, 1905 und 1912 besonders markant gewesen sind, da sie nahezu das gesamte Ruhrgebiet erfassen.
Die Kirchengemeinden sehen sich in dieser Zeit vor allem vor das Problem gestellt, angesichts der rasch anwachsenden Zahl evangelischer Gemeindeglieder deren Integration in das kirchliche Leben sicher zu stellen. Viele Gemeinden wachsen zu einer unüberschaubaren Größe, sodass z. T. mehr als 10 Pfarrer in einer Kirchengemeinde tätig sind. Die Betreuung der Gemeindeglieder regelt sich häufig bloß zufällig. Vor diesem Hintergrund ist die Gemeindereformbewegung im Protestantismus Ende des 19. Jahrhunderts zu verstehen, die – angeregt vor allem durch den Dresdener Pfarrer Emil Sulze – das Ziel verfolgt, die Gemeinden in relativ überschaubare Größen, die sog. Gemeindebezirke, aufzugliedern und jedem Bezirk einen bestimmten Pfarrer zuzuordnen. Unterstützt wird dieses Programm speziell im Ruhrgebiet durch die konsequente Gründung neuer Gemeinden oder durch Auspfarrungen an den Orten, wo sich ein organischer Bezug zur Gesamtgemeinde nicht mehr herstellen lässt. Die Kirchenleitungen reagieren somit auf die Bevölkerungsentwicklung mit der strikten Durchsetzung des Parochialprinzips, wobei das Leitbild die Entstehung überschaubarer Gemeinden oder Bezirke ist, in denen es – so Sulze – „zur Seelsorge und zu einer wirklichen Lebensgemeinschaft ihrer Mitglieder kommen soll.“ Um dies zu gewährleisten, entstehen neben dem Gottesdienst als der nach wie vor zentralen Veranstaltung der Kirchengemeinde zunehmend andere kirchengemeindliche Aktivitäten, wie Kleinkinderschulen, Angebote der Jugendarbeit sowie die spezifisch diakonische Gemeindepflege, die sich um das an vielen Orten neu entstehende Gemeindehaus gruppieren. Der Pfarrer wird im Prozess dieser Wandlung des Gemeindelebens immer mehr von einer hoheitlichen Amtsperson, die bei Amtshandlungen vorrangig eine offizielle Funktion wahrnimmt, zu einem Integrationspunkt der vielen neu entstehenden kirchengemeindlichen Aktivitäten: „Aus verwalteten Pfarrstellen sollten durchstrukturierte Gemeinden mit öffentlichen Angeboten werden.“ Der Aufbau von Vereinen sowie die seelsorgerliche Begleitung der Einzelnen und erste Elemente von Erwachsenenbildung werden auf diese Weise immer stärker zu einer Schlüsselqualifikation der Pfarrer. Auf diese Weise wird das klassische Modell der Anstaltskirche nach und nach durch die neue Form einer Vereins- und Gemeindekirche überwunden.
Dies ist der evangelischen Kirche im Ruhrgebiet Ende des 19. Jahrhunderts in einem erstaunlich hohen Maße gelungen. Insbesondere durch die konsequente Durchführung des Parochialprinzips gelingt es, eine geregelte kirchliche Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Die Folge ist eine Vielzahl von Gemeindeneugründungen speziell in der Zeit zwischen 1890 und 1910, sodass die meisten Kirchengemeinden im Ruhrgebiet gegenwärtig 100 Jahre alt oder jünger sind. In Entsprechung zu den vielen Gemeindeneugründungen werden auch die Kirchenkreise als die nächstgrößere Verwaltungseinheit neu geordnet, was sich exemplarisch an der Kreissynode Bochum zeigen lässt, zu der um 1890 unter anderem die Gemeinden Herne, Gelsenkirchen, Eickel, Schalke, Wattenscheid, Witten, Hattingen und Lütgendortmund gehören. In den nächsten drei Jahrzehnten entstehen aus dieser Kreissynode in der geographischen Mitte des Ruhrgebiets vier eigenständige Kreissynoden.
Die wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren dieses Gemeindeideals ist ein hohes Maß an nachbarschaftlicher Kommunikation, was jedoch in den Großstädten des späten 19. Jahrhunderts nicht mehr ohne weiteres vorauszusetzen ist. Bereits in dieser Zeit werden Klagen über die Anonymität in den Städten laut, gleichzeitig aber auch neue Kommunikationsformen breiten Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht. Hinzu kommt die hohe Mobilität, die einerseits durch die Migrationserfahrung, aber auch durch recht häufige Wechsel des Arbeitsplatzes begründet gewesen ist.
Angesichts dieser Situation erweist sich die vorrangige Ausrichtung der verfassten Kirche auf das Parochialprinzip als ein Defizit, wie sehr früh einzelne Theologen – insbesondere Friedrich Naumann – immer wieder angemahnt haben. Vor dem Hintergrund moderner Verkehrsmittel und der Presse bezeichnen diese Stimmen die im Rahmen der Gemeindereformbewegung letztlich vorausgesetzte geschlossene Einheit der Parochie als Illusion.
Als ein wichtiger Ansatz über die Grenzen der Parochie hinaus erweist sich das entstehende kirchliche Vereinswesen, etwa die seit 1882 gegründeten und im Ruhrgebiet schnell verbreiteten evangelischen Arbeitervereine , die sich an manchen Orten als Vorformen der von Naumann angestrebten „Bildung von Korporations- und Berufsgemeinden“ etablieren. Daneben entwickeln die Ortsvereine des evangelischen Bundes und der Inneren Mission eine auf die gesamte Stadt bzw. eine größere Region konzentrierte Präsenz. Viele Vereine bleiben jedoch fast ausschließlich auf die Gemeinde bezogen. Für das Ruhrgebiet charakteristisch ist somit eine Verschränkung der Gemeindereformbewegung und der entstehenden kirchlichen Vereinsbewegung, die sich wechselseitig stützen und die beiden wichtigsten Stützpfeiler der evangelischen Kirche um die Jahrhundertwende werden.
Das sichtbarste Zeichen dieser Neukonstituierung der evangelischen Kirche im Ruhrgebiet ist eine historisch bis dahin nicht gekannte Bautätigkeit. Nach und nach errichten die neu entstandenen Kirchengemeinden, z. T. auch die Gemeindebezirke, eigene Kirchen und vor allem eigene Gemeindehäuser, die sich sehr schnell zum kommunikativen Mittelpunkt des Gemeindelebens entwickeln. Hinzu kommen in den größeren Städten kirchliche Vereinshäuser, in denen die übergemeindlichen Vereine ihre Präsenz in der Öffentlichkeit deutlich markieren.
Der Bau der Kirchen sowie der Gemeinde- und Vereinshäuser wird an fast allen Orten durch Spenden von Einzelpersönlichkeiten sowie durch großzügige Unterstützungen von Industrieunternehmen realisiert. So haben Bergwerksgesellschaften die Kirchen z.B. in Bochum-Gerthe, Bochum-Riemke und in Bockum-Hövel, das Unternehmen Haniel das evangelische Vereinshaus in Duisburg-Ruhrort sowie insbesondere die Firma Krupp die Bauten der evangelischen Gemeinde Essen-Altendorf zu einem wesentlichen Teil oder sogar vollständig finanziert. Die Unternehmen, vor allem Bergwerksgesellschaften, bewerten ihre Unterstützung bei kirchlichen Bauvorhaben als einen Beitrag, den sozialen Desintegrationsprozessen im Zuge der Industrialisierung durch ein breites Netz von Wohlfahrts- und im weitesten Sinn Sozialeinrichtungen entgegen zu wirken. Dabei ist den Kirchengemeinden eine Schlüsselrolle zugewiesen worden.

1.2 „Die Feminisierung des Religiösen“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert und ihre Bedeutung für den Ruhrgebietsprotestantismus

Diese aus heutiger Sicht beachtliche Aktivierung für das protestantische Vereinswesen lässt sich insbesondere für die entstehenden kirchlichen Frauenvereine belegen. Viele evangelische Frauenvereine werden unmittelbar zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründet, nachdem im Jahr 1899 die preußische Königin und Kaiserin Auguste Viktoria die Initiative zum Aufbau einer einheitlichen evangelischen Frauenhilfe entwickelt hat. Die an manchen Orten bereits bestehenden Frauenvereine gliedern sich sehr rasch in dieses Werk ein. Vor allem aber werden um die Jahrhundertwende in fast allen Ruhrgebietsgemeinden weitere Frauenvereine gegründet, die sich zu einer starken Säule des kirchlichen Lebens entwickeln. In einzelnen Gemeinden und Gemeindebezirken gelingt eine nahezu vollständige Integration der ansässigen evangelischen Frauen, gerade auch in ausgesprochenen Arbeiterwohngebieten. So hat Pfarrer Johannes Zauleck recht bald nach seinem Amtsantritt in seinem Bezirk in Bochum, einer reinen Arbeiterwohngegend gegenüber dem Stahlwerk „Bochumer Verein“ gelegen, im Jahr 1914 einen Frauenverein gegründet, dem innerhalb kurzer Zeit 550 Frauen, „so gut wie jede evgl. Frau unseres Bezirkes“ , beigetreten ist.
Der hier exemplarisch zum Ausdruck kommenden starken Verankerung der Frauen in das kirchliche Leben ist man sich seitens der Pfarrerschaft und der Synoden sehr wohl bewusst, wie der Synodalbericht der Bochumer Kreissynode von 1913 beweist, welcher die Zurückhaltung der örtlichen Sozialdemokratie und ihrer Vereinigungen gegenüber der in Berlin sehr aktiven und durchaus erfolgreichen Kirchenaustrittsbewegung „Massenstreik gegen die Staatskirche“ herausstellt. Den entscheidenden Grund hierfür sieht der Synodalbericht in „einer religiösen Scheu, namentlich bei den Frauen..., welche das letzte Band mit der Kirche zu zerschneiden, auf Taufe und Konfirmation der Kinder und namentlich auf ein kirchliches Begräbnis zu verzichten, Bedenken tragen“ .
Diese Hinweise können auch im Ruhrgebiet als ein Indiz für die These der „Feminisierung der Religion“ während des 19. Jahrhunderts herangezogen werden. Diese These besagt, dass sich einerseits ein Übergewicht femininer Attribute im Vollzug von Religion herausbildet und dass andererseits die familiale Sozialisation zum entscheidenden Ort der Religion wird, wo Frauen als Tradentinnen religiöser Traditionen im privaten Raum der Familie wirken, auf diesen Raum verpflichtet werden, damit jedoch gleichzeitig auch den öffentlichen Raum der Kirchen immer stärker zu prägen beginnen. Auf diese Weise avancieren Frauen zum ausschlaggebenden Faktor in Fragen der religiösen Erziehung und gewinnen in diesem Zusammenhang eine spezifische Kompetenz auch in kirchlichen Angelegenheiten.
Als Beleg für diese These kann nicht zuletzt der Einfluss von Frauen auf die Erziehung von Kindern in konfessionsverschiedenen Ehen – nach dem damaligen Sprachgebrauch in sog. „Mischehen“, welche im konfessionsgemischten Ruhrgebiet relativ häufig gewesen sind – betrachtet werden. Grundsätzlich galt nach einer das „Allgemeine preußischen Landrecht“ ergänzenden Deklaration Friedrich Wilhelms III. vom November 1803 das patriarchalische Bestimmungsgesetz, wonach Kinder in gemischter Ehe bis zum 14. Lebensjahr in der Religion des Vaters zu erziehen sind. Allerdings ist die Möglichkeit eingeräumt, dass sich ein Vater damit einverstanden erklärt, die Kinder nach der religiösen Konfession der Frau erziehen zu lassen. Die Verschiebungen im Einfluss der Geschlechter auf die Erziehung von Kindern – speziell auf die religiöse Erziehung – während des 19. Jahrhunderts lassen sich damit belegen, dass die im Gesetz als Ausnahme zugestandene Möglichkeit eine Erziehung nach der religiösen Konfession der Frau immer häufiger geworden ist und in dem Zeitraum zwischen 1890 und 1910 die Entwicklung dahin geht, dass mehrheitlich bei Mischehen Kinder in der Konfession der Frauen erzogen werden, wie folgende Zahlen aus der Kreissynode Bochum belegen:
Bei einem katholischen Vater und einer evangelischen Mutter ist es
im Jahr 1890 in 52 %,
im Jahr 1900 in 45 % und
im Jahr 1910 in 41 % der Fälle zu einer katholischen Kindererziehung gekommen.
Im umgekehrten Fall der Ehe eines evangelischen Vaters und einer katholischen Mutter ist es
im Jahr 1890 in 44 %,
im Jahr 1900 in 40 % und
im Jahr 1910 in 39 % der Fälle zu einer evangelischen Erziehung der Kinder gekommen. Die Tendenz dieser beiden Statistiken zeigt deutlich, dass es in der Zeit zwischen 1890 und 1910 zunächst den katholischen Frauen, mit einer leichten Zeitverzögerung aber auch evangelischen Frauen gelungen ist, die Kinder nach ihrer jeweiligen Konfession zu erziehen. Insgesamt ist auf diese Weise ein praktisch ausgewogenes Verhältnis bei der Kindererziehung in konfessionsverschiedenen Ehen erreicht worden, wie es die absoluten Zahlen aus dem Kirchenkreis Bochum jener Zeit unterstreichen:
Ehen mit evangelischer Kindererziehung:
1886: 1179 1896: 1032 1906: 1513.
Ehen mit katholischer Kindererziehung:
1886: 1510 1896: 1185 1906: 1606.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Feminisierung des Religiösen im 19. Jahrhundert ist darin zu sehen, dass mit der 1836 beginnenden erneuten Schaffung des Diakonissenamtes im Protestantismus eine kirchlich und gesellschaftlich anerkannte Lebensform für Frauen außerhalb der Familie in der Form einer religiös fundierten Berufstätigkeit geschaffen worden ist. Angesichts der sozialen Problemlagen im 19. Jahrhundert wird die praktische Sozialarbeit zu einem immer selbstverständlicher werdenden Teil kirchlichen Handelns. Dies gilt in erster Linie für die größeren Einrichtungen und Werke der Inneren Mission, schlägt sich aber auch auf der Ebene der Kirchengemeinden durch die Anstellung von Gemeindeschwestern sowie Erzieherinnen für die beginnende Kinderarbeit nieder. Seit den 1890er Jahren gehören Gemeindeschwestern in den meisten größeren Ruhrgebietsgemeinden zu den auf das pfarramtliche Handeln hingeordneten Hilfsdiensten, welche insbesondere in der Erziehungshilfe sowie in der sozialen Unterstützung von Frauen und älteren Menschen ihre zentrale Aufgabe finden.

1.3 Bedeutung und Grenze des konfessionellen Gegensatzes im Ruhrgebiet.

Die wesentlich unter protestantischen Vorzeichen und mit einem starken nationalprotestantischen Selbstbewusstsein erfolgte Einigung des Deutschen Reiches, der sehr bald ausbrechende Kulturkampf und auch die zunehmende Verunsicherung beider Kirchen durch die Industrialisierung und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Wandel führen allmählich zu einer Vertiefung der konfessionellen Gegensätze, die speziell in den 1880er Jahren häufig zu aggressiver Polemik auf beiden Seiten führt. Im Ruhrgebiet ist dieser Gegensatz vor dem Hintergrund eines konfessionellen Mischverhältnisses spätestens seit der Industrialisierung eine allgegenwärtige Erfahrung, die in nahezu jeder Gemeinde und nicht zuletzt in den konfessionellen Grundschulen das alltägliche Leben prägt.
Konflikte entzünden sich zunächst auf Grund politischer Gegensätze. Die vielerorts bestehenden christlich-sozialen Bergmannsvereine, in denen in relativ großer Selbstverständlichkeit evangelische und katholische Mitglieder einen Ort der gemeinsamen Traditionspflege und der kirchlichen Besinnung gefunden haben, werden zu Beginn der 1880er Jahre von Konflikten um die politische Ausrichtung ihrer Mitglieder geprägt. Dies lässt sich insbesondere anhand der Gründungsgeschichte der evangelischen Arbeitervereinsbewegung verdeutlichen. Ein Wahlaufruf des Christlich-Sozialen Arbeitervereins Gelsenkirchen für das katholische „Zentrum“ stößt bei den evangelischen Mitgliedern, die mehrheitlich national-liberal eingestellt sind, auf einen scharfen Protest. Dieser eskaliert, als der evangelische Bergmann Fröhlich, der sich in besonderer Weise gegen den Wahlaufruf ausgesprochen hat, aus dem Verein ausgeschlossen wird, woraufhin sich im Sommer 1882 in Gelsenkirchen ein erster evangelischer Arbeiterverein konstituiert.
In der sich rasch entwickelnden evangelischen Arbeitervereinsbewegung im Ruhrgebiet steht seit diesem Beginn die aktive und bewusste Förderung „evangelischen Bewusstseins unter den Glaubensgenossen“ im Zentrum des eigenen Selbstverständnisses. Einen besonderen Auftrieb erfährt das protestantische Selbstbewusstsein im Jahr 1883, in dem anlässlich des 400. Geburtstages Luthers in einer starken Akzentuierung der „deutsche Luther“ in Konfrontation zum Katholizismus wie auch zur stärker werdenden Sozialdemokratie in das allgemeine Bewusstsein der Protestanten gerückt wird. Ein weiterer Höhepunkt der protestantischen Selbstvergewisserung im Kaiserreich in Abgrenzung speziell zum Katholizismus folgt im Jahr 1887, in dem der 370. Jahrestag des reformatorischen Thesenanschlags in besonderer Weise gefeiert wird, nachdem kurz zuvor der Evangelische Bund zur Wahrung deutsch-protestantischer Interessen gegründet worden ist. Der Evangelische Bund findet auch im Ruhrgebietsprotestantismus sehr schnell breite Anerkennung und Unterstützung. In den Anfangsjahren gestaltet sich zudem eine sehr enge Zusammenarbeit der Ortsvereine des Evangelischen Bundes mit denen der evangelischen Arbeitervereine. So verstehen sich Evangelischer Bund und die Arbeitervereine im Ruhrgebiet als ein „Bollwerk“, an dem der Ansturm der Feinde, sei es mit „rotem“ sei es mit „schwarzem Banner“ , abprallt.
Vor dem Hintergrund dieses äußerst gespannten Verhältnisses zwischen den Konfessionen ist es um so überraschender, dass im Jahr 1894 im Ruhrgebiet ein „Gewerkverein christlicher Bergleute“ als erste interkonfessionelle Gewerkschaft gegründet worden ist. Auslöser dieser Bestrebungen ist einerseits die sich verschärfende antireligiöse Polemik des „alten Verbandes“, der sich zu Beginn der 1890er Jahre in einer Krise befindenden sozialdemokratisch orientierten Bergarbeitergewerkschaft, und andererseits ein nach Aufhebung des Sozialistengesetzes verstärkter Aufbau sozialdemokratischer Vereine zur Bildungs- und Jugendarbeit, in der beide Konfessionen eine enorme Herausforderung erblicken. Am 8. Juli 1894 veröffentlicht der katholische Bergarbeiter August Brust aus Essen einen Aufruf zur Gründung eines Gewerkvereins christlicher Bergleute, der auch an die evangelischen Arbeitervereine gerichtet wird, nicht zuletzt, da sich im Vorfeld auch evangelische Bergleute an der Formulierung des Aufrufs beteiligt haben. Wie nicht anders zu erwarten, stößt dieser Aufruf bei den Spitzen der evangelischen Arbeitervereine, vor allem jedoch bei den eng mit diesen Vereinen verknüpften Zweigorganisationen des Evangelischen Bundes auf Kritik, wenngleich sofort auch abwägendere Stimmen laut werden, die ein Zusammengehen der beiden Konfessionen im Gegenüber zur Sozialdemokratie befürworten.
Unversöhnlich bleibt die Haltung des Evangelischen Bundes, der bereits in seinem Generalbericht von 1891 festgestellt hat, dass auch die soziale Gefahr keinen Grund bietet, „unsere Frontstellung gegen die römische Kirche einzuziehen“. Innerhalb der evangelischen Arbeitervereine ist diese schroffe Haltung jedoch nicht mehr vermittelbar. Nach längerer Debatte beschließt die Versammlung, stark beeinflusst durch den Vorsitzenden der evangelischen Arbeitervereine, Ludwig Weber, einstimmig, Mitglieder der evangelischen Arbeitervereine zu dem geplanten christlichen Bergarbeiterkongress zu entsenden. Die Gründungsversammlung des Gewerkvereins christlicher Bergleute vom 26. August 1894 findet dementsprechend unter reger Beteiligung evangelischer Bergleute statt, wobei sich jedoch die katholischen Bergleute als die zahlenmäßig überlegene Kraft und auch in der Besetzung wichtiger Vorstandspositionen als dominierend erweisen. Nur eine Minderheit der evangelischen Arbeitervereine schließt sich aus prinzipiell konfessionellen Überlegungen der entstehenden christlichen Gewerkschaftsbewegung nicht an, sodass sich mit der Gründung und Konsolidierung der christlichen Gewerkschaftsbewegung eine erste bedeutsame interkonfessionelle Bewegung herausbildet, deren Wurzeln im Ruhrgebiet liegen.
Die Gründungsgeschichte der christlichen Gewerkschaften zeigt, dass soziale Anliegen letztlich den konfessionellen Gegensatz, trotz der Schärfe, die dieser Gegensatz in der Zwischenzeit angenommen hat, zu dominieren vermag. Ebenso ist die gemeinsame Frontstellung gegenüber der Sozialdemokratie als Erklärungsmoment heranzuziehen, welche offensichtlich die innerchristlichen Gegensätze zu überwinden hilft. Auch wenn sich das Verhältnis der Konfessionen nach wie vor sehr spannungsreich darstellt, ist seit der Mitte der 1890er Jahre der Höhepunkt der konfessionellen Polemik überschritten. Darüber hinaus bleibt es für die deutsche Kirchengeschichte bedeutsam, dass sich speziell auf sozialpolitischem Gebiet unter den Bedingungen der hochindustrialisierten Region des Ruhrgebiets ein konstruktiver Dialog und sogar Ansätze der Kooperation zwischen den Konfessionen ausgebildet haben .

1.4 Theologische Profile des Ruhrgebietsprotestantismus vor 1933

Im Ruhrgebiet lassen sich im wesentlichen zwei Profile pfarramtlicher Tätigkeit unterscheiden. Dominierend bleibt bis in die 1920er Jahre hinein der traditionale, sozialpatriarchalische Einstellungstyp, dessen Lebenswelt weitgehend von den agrarischen Bezügen der vorindustriellen Welt bestimmt gewesen ist. Das sozialpatriarchalische Weltbild ist von klaren Über- und Unterordnungsverhältnissen geprägt, wie sie in klassischer Weise in Luthers Erläuterungen zum Elterngebot im Großen Katechismus ihren Ausdruck gefunden haben. Die alltagspraktische Ausgestaltung der grundsätzlich hierarchisch verstandenen Sozialverhältnisse: Eltern - Kinder; Vorgesetzter - Untergebene, Unternehmer - Arbeiter u.a. schärft den untergeordneten Ständen grundsätzliche Gehorsamspflichten ein. Diesen Gehorsams- und Treuepflichten der Untergebenenstände hat auf der anderen Seite ein besonderes Fürsorgeverhältnis der übergeordneten Stände zu entsprechen, welches stark bevormundend, vielerorts jedoch auch von echter sozialer Verantwortung geprägt gewesen ist.
Dieses Idealbild der durch christlichen Geist versittlichten patriarchalen Verhältnisse, von Ernst Troeltsch als christlicher Liebespatriarchalismus gedeutet , prägt das theologische Denken und pfarramtliche Handeln der meisten Pfarrer in den Ruhrgebietsgemeinden am Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Mentalität ist nicht zuletzt in der sozialen Herkunft der meisten Pfarrer begründet, wobei es auffällig ist, dass im Ruhrgebiet die soziale Herkunft der Pfarrer aus dem „Agrarbereich“ bis 1905 ständig zunimmt. Erst ab dem Jahr 1910 kommt der stärkste Zuwachs junger Theologen aus dem Bereich „Öffentliche Dienste/Freie Berufe“.
Neben diesem dominierenden Typ theologisch-ethischen Denkens bildet sich speziell seit den 1890er Jahren eine sozialkonservative, reformorientierte Haltung eines nicht unbeträchtlichen Teils der Pfarrerschaft im Ruhrgebiet heraus. Pfarrer dieses Einstellungstyps, in der Regel noch relativ jung, sind diejenigen, welche sich vor allem für den Aufbau des entstehenden Vereinswesens im Ruhrgebiet engagieren. Sie stellen sich auf den durch die Industrialisierung geprägten Wandel der Lebenswelt ein und versuchen, einen kirchlichen und sozialen Fortschritt auf der Basis einer bewusst nationalen und königstreuen Haltung und einer theologisch modern-positiven Theologie zu initiieren. Das Ideal dieser Pfarrer, die in der Regel von Adolf Stoecker beeindruckt sind, kann dahingehend charakterisiert werden, dass sie eine harmonische Verbindung von sozialer Volkskirche und sozialem Königstum anstreben. So engagieren sie sich für sozialpolitische Forderungen, welche im Rahmen des Bestehenden die berechtigten Ansprüche der Arbeiterschaft sichern sollen. Obwohl streng antisozialistisch und häufig auch antidemokratisch eingestellt, haben sie die konkreten Lebensverhältnisse der Arbeitnehmer sehr deutlich gesehen und entsprechende Reforminitiativen mitgetragen, vereinzelt sogar Verständnis für die Forderungen von Streikenden – etwa im Rahmen des großen Bergarbeiterstreiks von 1905 – artikuliert.
Demgegenüber spielt der den Protestantismus im 19. Jahrhundert weitgehend prägende Gegensatz von theologischem Liberalismus und einem orthodox-konservativen Verständnis des Evangeliums im Ruhrgebiet kaum eine Rolle. Als prominenter liberaler Theologe ist hier nur Gottfried Traub zu nennen, der seit 1901 als Pfarrer an der Dortmunder Reinoldikirche wirkt. Bei Traub spielt als Naumann-Schüler das sozialpolitische Engagement eine große Rolle, wie es nicht zuletzt seine beiden bedeutenden, während der Dortmunder Amtszeit verfassten Schriften „Ethik und Kapitalismus“ (1904) sowie „Der Pfarrer und die soziale Frage“ (1907) beweisen.
Aufgrund seiner theologisch liberalen Haltung – so hat Traub seine Konfirmanden nicht auf das Apostolicum verpflichtet und sich öffentlich für den 1911 amtsenthobenen Kölner Pfarrer Carl Jatho eingesetzt – ist er im Jahr 1912 trotz eines Rückhalts in der Gemeinde vom Konsistorium der westfälischen Provinzialkirche aus dem Pfarrdienst entlassen worden, was in den gebildeten Schichten des Protestantismus zu heftigen Protesten , jedoch nicht zu größeren innerkirchlichen Auseinandersetzungen im Ruhrgebiet geführt hat. Traub und die durch ihn verkörperte sozialliberale Mentalität bleibt im Ruhrgebietsprotestantismus letztlich ein Randphänomen.

2. Der Kirchenkampf und seine Auswirkungen auf den Ruhrgebietsprotestantismus

2.1. Die Ruhrgebietsgemeinden als bedeutsamer Rückhalt der Bekennenden Kirche in Westfalen und im Rheinland

Das Ruhrgebiet wird sehr früh ein Zentrum der sich im Laufe der Jahre 1933/34 herausbildenden „Bekennenden Kirche“, die sich allen Bestrebungen einer Gleichschaltung der evangelischen Kirche widersetzt und durch ihr Bekenntnis sowie den Aufbau eigener kirchenleitender Gremien theologisch wie kirchenpolitisch den Anspruch erhebt, allein die legitime evangelische Kirche in Deutschland zu repräsentieren.
In den kirchenpolitischen Wirren des Frühjahres 1933, in denen sich die Zielsetzungen und Aktivitäten der nationalsozialistisch orientierten Glaubensbewegung der „Deutschen Christen“ und der auf eine Kirchenreform zielenden „Jungreformatorischen Bewegung“ sowie die kirchenjuristischen Bemühungen um die Schaffung einer einheitlichen deutschen Reichskirche auf vielfältige Weise überkreuzen , ruft der Bochumer Pfarrer Hans Ehrenberg im Frühjahr 1933 fünf weitere Pfarrer aus dem Ruhrgebiet, unter ihnen Ludwig Steil aus Holsterhausen bei Herne, in sein Pfarrhaus zusammen, um angesichts der Konflikte in der Kirche, aber auch in Reaktion auf die neue Situation im Staat eine sog. „Bekenntnisfront“ aufzubauen. Diese Pfarrer haben das erste öffentliche Bekenntnis von evangelischen Christen zur Lage von Kirche und Staat am Beginn der NS-Herrschaft ausgearbeitet. Es wird zu Pfingsten 1933 als „Wort und Bekenntnis westfälischer Pfarrer zur Stunde der Kirche und des Volkes“ mit der Unterschrift von rund 100 Pfarrern veröffentlicht.
Dieses Bochumer Pfingstbekenntnis bedeutet eine der frühesten theologischen Orientierungen der sich nach und nach formierenden Bekennenden Kirche. Inhaltlich enthält es eine klare Absage an das Programm der Deutschen Christen, aber auch eine Kritik der nationalsozialistischen Weltanschauung. Das Bochumer Pfingstbekenntnis verurteilt die nationalsozialistische Beschwörung des Volkstums als Schwärmerei, welche die natürlichen Gegebenheiten von Gott dem Schöpfer lösen will. Bemerkenswert ist ferner der frühe, theologisch begründete Widerspruch gegen jeden totalitären Anspruch des Staates.
Mit der Herausgabe dieses Pfingstbekenntnisses und seiner großen Breitenwirkung in Westfalen - nicht zuletzt im Raum des Ruhrgebiets – werden Hans Ehrenberg und vor allem der noch recht junge Ludwig Steil zu den bekanntesten Pfarrern der Region. Während Hans Ehrenberg als sog. „Judenchrist“ sich auf Grund permanenter Anfeindungen seitens verschiedener NS-Stellen nach und nach aus den öffentlichen Auseinandersetzungen zurückziehen und schließlich auch das Pfarramt aufgeben muss , wird Steil als Mitglied des Reichs-Bruderrates des Pfarrernotbundes, der sich im Herbst 1933 aus Protest gegen die von den „Deutschen Christen“ geforderte Übernahme des sog. „Arierparagraphen“ in der Kirche gebildet hat, und später als Mitglied des westfälischen Bruderrates zu einer Leitfigur der BK.
Neben den Kirchenkreisen Herne und Bochum, wo sich neben Steil und Ehrenberg insbesondere der ehemalige CSVD-Reichstagsabgeordnete Albert Schmidt für die Belange der BK engagiert, sind insbesondere die Synoden Dortmund und Essen weitere Schwerpunkte der BK im Ruhrgebiet. In Dortmund spielen die Pfarrer Lücking und Heuner eine herausragende Rolle für den Kirchenkampf. Lücking organisiert 1934 in Dortmund die beiden großen Versammlungen zur Konstituierung der westfälischen BK und übernimmt in der Folgezeit die geschäftliche Leitung des westfälischen Bruderrates. Nach mehreren Hausdurchsuchungen ist die Geschäftsstelle schließlich im Juni 1938 von der Gestapo aufgelöst worden, die Mitarbeiter kurzfristig inhaftiert, während Lücking 111 Tage in Haft geblieben und nach seiner Freilassung nach Hinterpommern verbannt worden ist. Heuner amtiert seit 1934 als Superintendent der Dortmunder Bekenntnissynode und ist auf Grund der entschiedenen Verteidigung kirchlicher Positionen mehrfach inhaftiert und ebenfalls im Sommer 1938 aus Westfalen verbannt worden.
In Essen spielt Pfarrer Graeber eine besondere Rolle, der mit Hilfe seines Presbyters und Freundes Gustav Heinemann eine eigenständige freie Gemeinde gründet. Für die rheinische BK ist der Essener Pfarrer Heinrich Held auf regionaler wie auf überregionaler Ebene von hervorragender Bedeutung. Schließlich kann sich die kirchliche Jugendarbeit – so der CVJM im Essener Weigle-Haus unter Leitung seines in der BK engagierten Pfarrers Wilhelm Busch, der westdeutsche Jungmännerbund unter Pfarrer Johannes Busch in Witten und der westfälische Provinzialverband weiblicher Jugend unter Pfarrer Steinsiek in Hagen – eine Eigenständigkeit bewahren.

2.2. Die Konzentration auf die kerngemeindlichen Funktionen kirchlichen Handelns

Der Kirchenkampf führt zu einer beträchtlichen Aktivierung in der evangelischen Kirche. In Westfalen erklären 500.000 Gemeindeglieder – von rund 2,36 Millionen insgesamt – ihren Beitritt zur BK. Eine besonders hohe Mobilisierung von Gemeindegliedern für die BK gelingt z.B. in Holsterhausen, der Gemeinde Steils, wo knapp 50% Mitglieder der BK zu verzeichnen sind. Dies ist im Ganzen aber eine Ausnahme gewesen. Nach dem hohen Grad der öffentlichen Aufmerksamkeit zu Beginn des Kirchenkampfes, der wesentlich aus einer allerdings sehr kurzfristigen, rein kirchenpolitisch begründeten Mobilisierung beträchtlicher Teile der evangelischen, häufig kirchlich distanzierten Wähler der NSDAP für die Anliegen der DC resultiert, konzentrieren sich die Auseinandersetzungen in den folgenden Jahren stärker auf die Kerngemeinden. Die Mitgliedszahlen der BK in Synoden mit einem starken Rückhalt, wie in Herne – hier zählt die BK zur Jahreswende 1934/35 25.ooo Mitglieder – oder Gelsenkirchen, liegen bei rund 25%, in den meisten anderen Ruhrgebietssynoden schwanken die Zahlen zwischen 15% und 20%. Allerdings gehören damit rund 90% der kirchlich aktiven Protestanten zur BK , die DC kann ab 1934 höchstens 5% aktiver Gemeindeglieder mobilisieren, der Rest verhält sich zu beiden Richtungen distanziert. Auch in der Pfarrerschaft Westfalens und Rheinlands ist mit rund 70% eine überdurchschnittlich hohe Zustimmung und Mitwirkung in der BK zu verzeichnen. Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, dass sich das Selbstverständnis und die Praxis der BK-Gemeinden stark auf die zentrale Aufgabe der Verkündigung konzentriert. Dies entspricht zudem dem theologischen Selbstverständnis der BK, wie es in der Wort-Gottes-Theologie begründet ist und in der Barmer Theologischen Erklärung als dem Gründungsdokument der BK vom 31.5.1934 seinen Ausdruck gefunden hat.
Mit dieser Akzentsetzung sind die Grundlagen und das Wollen des nationalprotestantischen und des kirchlich-sozialen Vereinswesens theologisch in Frage gestellt. Da große Teile des Vereinswesens ohnehin von Verboten betroffen sind und sich, nach dem freiwilligen Beitritt im Jahr 1933 zu den gleichgeschalteten, von der DC dominierten Männer-, Frauen- und Jugendwerk der Deutschen evangelischen Kirche, nur unter Schwierigkeiten als gemeindenahe Gruppen reorganisieren können, erleidet dieser für den Ruhrgebietsprotestantismus wichtige Arbeitsbereich im kirchlichen Vorfeld mit seinen Angeboten der Geselligkeit und der Bildungsarbeit Einbrüche.
Eine weitere Einschränkung der kirchlichen Arbeit bedeutet das in den Jahren 1935/36 forcierte Programm des Nationalsozialismus zur Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens. Eine wichtige Rolle spielt diesbezüglich der Erlass Heydrichs vom 6. Juni 1936 an die Deutsche Evangelische Kirche, der Geistlichen ein Redeverbot erteilt, von dem allein die im engeren Sinn seelsorgerlichen Tätigkeiten, die Amtshandlungen und die Gottesdienste ausgenommen bleiben. Damit hat der NS-Staat versucht, alle über den unmittelbar geistlichen Bereich hinausgehenden Handlungsfelder der Kirche, wie sie für die am Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildete Form der Vereins- und Gemeindekirche typisch geworden sind, zu unterbinden.
Sowohl das theologische Selbstverständnis vieler Pfarrer und Mitglieder der BK wie auch die Maßnahmen des NS-Staates zielen somit auf eine Konzentration kirchlichen Handelns auf die zumeist im engeren Sinn verstandenen Aufgaben der Verkündigung und Seelsorge. Die Wirkungen sind ambivalent: Einerseits wird die zentrale Bedeutung der Verkündigung in neuer Weise erkannt und prägt das Selbstverständnis von Pfarrern und Gemeinden. Andererseits ist aber auch eine Milieuverengung des Protestantismus in jenen Jahren zu verzeichnen.
Im Ruhrgebiet ist es insbesondere Gustav Heinemann, der die Bedeutung der kirchlichen Bildungsarbeit über die Verkündigungsaufgabe hinaus betont und sich aus diesem Grund seit 1937 im Essener Weigle-Haus des CVJM engagiert. Der CVJM befindet sich während der NS-Zeit in einer bedrängten Lage, da eine freie Jugendarbeit während dieser Zeit nicht möglich ist und man sich ebenfalls auf sog. rein religiöse Aktivitäten beschränken muss. In seiner Antrittsrede im Vorstand des CVJM stellt Heinemann die Notwendigkeit der Bildungsarbeit an jungen Männern heraus, gerade in einer Zeit, in der ein „offener Kampf gegen das Christentum“ geführt werde. Dabei sieht Heinemann die besondere Chance und Aufgabe des CVJM darin, dass nicht allein durch die Verkündigung der Pfarrer, sondern auch durch „Laien aller Berufe“ im Sinne des Priestertums aller Gläubigen, wie es die evangelische Kirche auszeichnet, eine umfassende religiöse Bildung und seelsorgerliche Begleitung junger Menschen gewährleistet werden könne.

2.3. Theologisch-ethische Neuorientierungen durch die Erfahrungen des Kirchenkampfes

Die mehrheitlich national-konservativ geprägten Protestanten, deren Haltung für den Ruhrgebietsprotestantismus vor 1933 typisch gewesen ist, geraten im Verlauf der NS-Zeit immer häufiger in einen partiellen oder z.T. sogar grundsätzlich werdenden Gegensatz zum NS-Staat. Die Auseinandersetzungen um Rechtsbrüche des Staates im Blick auf kirchliche Belange, zunehmend aber auch eine Sensibilität für die schrittweise Aushöhlung und Aufgabe der Rechtsstaatlichkeit, führen sie zu einer theologisch-ethischen Neuorientierung, welche die für den deutschen Protestantismus typische, nahezu unbedingte Staatsloyalität nach und nach überwindet.
Beispielhaft kann dies am weiteren Lebensweg Ludwig Steils gezeigt werden, da er der Märtyrer der BK im Ruhrgebiet werden wird. Steils unermüdlicher Einsatz im Rahmen der BK verbunden mit seiner deutlich zum Ausdruck gebrachten Distanz zum totalitären NS-Staat sowie einer scharfen Ablehnung der weltanschaulichen Positionen Rosenbergs bringen ihn wiederholte Male in Konflikte mit nationalsozialistischen Dienststellen.
Solche Erfahrungen haben bei Steil und vielen anderen Theologen der BK zu einer Distanzierung vom traditionellen, unhinterfragten Gehorsam gegenüber der als „Obrigkeit“ verstandenen Staatsführung und zu der Entdeckung und Wahrnahme einer kirchlichen Öffentlichkeitsverantwortung geführt. In diesem Sinn hält Steil während der Tagung der reichsweiten Bekenntnissynode 1936 in Bad Oeynhausen die Synodalpredigt über Amos 8, 11-12 und führt darin aus, dass das prophetische Amt stets der Gemeinde als Ganzer gegeben und das prophetische Wort der Schrift als konkrete Wegweisung für Kirche und Volk zu verstehen ist. Die Gemeinde hat dieses Wort der Welt zu sagen, auch wenn diese - wie Steil am Beispiel von Repressalien gegenüber kirchlichen Einrichtungen und der Verkehrung der christlichen Botschaft durch völkisch-religiöse Feiern deutlich zu machen versucht - das prophetische Wort ablehne.
In den folgenden Jahren der NS-Herrschaft kommt es kontinuierlich zu publizistischen Angriffen auf Steil in NS-Zeitungen sowie zu vielfachen Vernehmungen bei der Geheimen Staatspolizei. So laufen im Jahr 1938 beim Sondergericht in Dortmund fünf Verfahren gegen Steil, die sich jeweils auf das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiformationen“ beziehen. Solche Verfahren und die darauf folgenden Vernehmungen bei der Gestapo haben häufig das Verlesen der BK-Fürbittenlisten für gefangene oder gemaßregelte Brüder und Schwestern der BK oder auch kirchliche Erklärungen gegen die rassische Weltanschauung Rosenbergs zum Inhalt. Steil hat das Verlesen der Fürbittenlisten kontinuierlich durchgehalten und sich auch durch ein besonderes Verbot im Sommer 1944 nicht davon abbringen lassen.
Die Verhaftung Steils und seine Überstellung in ein Konzentrationslager im September 1944 erfolgen somit nicht aufgrund eines einmaligen Konfliktes, sondern bringen die ständigen Auseinandersetzungen zwischen Steil und NS-Behörden zu einem sich beinahe zwangsläufig ergebenden Höhepunkt. Der unmittelbare Anlass der Verhaftung ist eine auf Bitten der Herner Kirchengemeinde in der dort noch unzerstörten Kirche gehaltene Volksmissionswoche. Steil hat in diesen Vorträgen den Menschen dadurch versucht Mut zuzusprechen, dass er die Macht Gottes und seines Regimentes deutlich hervorhebt, der gegenüber alle Pläne und Zielsetzungen von Menschen zuschanden werden müssen. Im Rahmen des Vortrages über Gottes Weltregiment weist Steil kritisch auf die Aussage Hitlers hin, dass die sog. „lebensunwerten“ Menschen ausgerottet werden müssten, während diese nach Gottes Willen jedoch auch ein Recht auf Leben hätten. Hier konkretisiert sich für Steil erneut der Konflikt zwischen Glaubensgehorsam und Staatsloyalität.
Wenige Wochen nach dieser Vortragsreihe vom Juli 1944 in Herne muss er sich in Dortmund bei der Gestapo wegen einiger Aussagen - insbesondere wegen seiner Kritik an der Vernichtung des sog. „lebensunwerten“ Lebens - verantworten. Noch vor der Vernehmung ist von der Gestapo die Überführung Steils nach Dachau beantragt worden. Am 5.12. werden Steil und andere Mitgefangene auf den Transport nach Dachau geschickt. Nach einem rund dreiwöchigen Transport unter menschenunwürdigen Bedingungen - eng zusammengelegt mit Kranken, ohne Decken und Strohsäcke - trifft er mit anderen Leidensgefährten am 23.12. in Dachau ein. Unterwegs hat er sich - so der Bericht eines Überlebenden an seine Frau - insbesondere um Kranke seelsorgerlich gekümmert und zudem von seinen Essensrationen abgegeben. Gegen Ende des Transports erleidet er einen schweren Schwächeanfall, bei der Ankunft in Dachau ist Steil grippekrank. Bereits Anfang Januar 1945 wird er mit Typhus ins Krankenrevier eingeliefert, wo er – durch die Gefangenschaft und die unzureichende Versorgung stark geschwächt – am 17. Januar 1945 in Dachau verstirbt.

2.4. Die Re-Stabilisierung der „Volkskirche“ in der Endphase des zweiten Weltkriegs

Vor dem Hintergrund der exemplarisch an Hand des Lebenswegs Ludwig Steils geschilderten Auseinandersetzungen zwischen BK-Pfarrern und NS-Dienststellen wird das Ausmaß staatlicher Repressionen gegenüber dem Protestantismus auch im Ruhrgebiet deutlich. In der NSDAP gewinnen die „weltanschaulichen Distanzierungskräfte“ ab 1936 schrittweise einen immer größeren Einfluss und streben offen eine „Totalausschaltung“ der Kirchen an. Als wichtigster staatlicher Eingriff während des Krieges ist die Dienstverpflichtung und Einziehung zum Wehrdienst überdurchschnittlich vieler Pfarrer der BK zu werten, da auf diese Weise die Arbeitsfähigkeit der betroffenen BK-Gemeinden in der Regel gravierend eingeschränkt worden ist. Häufig haben Pfarrfrauen und Vikarinnen die Arbeit in den Gemeinden aufrecht erhalten.
Die Situation im Ruhrgebiet verschärft sich darüber hinaus durch die weitgehende Zerstörung der städtischen und auch der kirchlichen Infrastruktur, insbesondere seit den schweren Luftangriffen im Sommer 1943. Unter den Kriegsbedingungen mit der Evakuierung der meisten Kinder und Jugendlichen und auch vieler jüngerer Frauen ist an eine geordnete Tätigkeit in den Kirchengemeinden kaum mehr zu denken. Im wesentlichen bemüht man sich darum, regelmäßig an Sonn- und Feiertagen Gottesdienste abzuhalten.
Von immer größerer Bedeutung – nicht zuletzt im Blick auf die Öffentlichkeit – wird die Durchführung der Amtshandlungen. Während Taufen und Trauungen vor allem in den letzten zwei Kriegsjahren deutlich zurückgehen, ist seit den starken Bombenangriffen auf das Ruhrgebiet die Zahl der Beerdigungen dramatisch angestiegen. Während nach den ersten Bombenangriffen auf das Ruhrgebiet Vertreter der NSDAP oder ihrer Unterorganisationen bei Trauerfeiern für Zivilopfer präsent sind und mit ihren Ansprachen, Reden und Symbolen häufig in eine offene Konkurrenz zu der kirchlichen Trauerfeier zu treten versuchen, ändert sich in den letzten beiden Kriegsjahren die Situation. Die Partei tritt immer seltener und immer weniger sichtbar bei Trauerfeiern in Erscheinung, während die Angehörigen bei den Geistlichen um Beistand nachsuchen.
Bei Kriegsende gehören die Kirchen zu den wenigen handlungsfähigen Institutionen. Daher werden sie in den ersten Wochen und Monaten nach Kriegsende zu den wichtigsten Ansprechpartnern der Alliierten auf deutscher Seite. In dieser Position gelingt es ihnen, Anliegen der Zivilbevölkerung zu artikulieren und auf bestimmte Missstände – neben der Nahrungssituation werden diese in den ersten Wochen häufig hervorgerufen durch marodierende befreite Zwangsarbeiter – hinzuweisen und um Abhilfe zu bitten. Da sehr bald auch erste Hilfslieferungen von ausländischen Kirchen eintreffen, können sich die Kirchen auch durch unmittelbare Hilfsaktionen profilieren.
Mindestens ebenso wichtig ist aber die geistliche Orientierung der Kirchen angesichts der Leere nach dem Untergang des Nationalsozialismus, der für viele Menschen durchaus eine „politische Religion“ und damit eine letzte Vergewisserung ihrer Lebensdeutung gewesen ist. In den Jahren zwischen 1945 und 1950 sind die Kirchen gefüllt wie zu keiner Zeit während des 20. Jahrhunderts, es werden vielen Nachkonfirmierungen durchgeführt und ein Großteil der während der NS-Zeit aus den Kirchen Ausgetretenen begehrt den Wiedereintritt. Auch die Zahl der evangelischen Theologiestudierenden mit dem Berufswunsch „Pfarramt“ erreicht in diesem Jahrfünft einen Höhepunkt.

3. Von der Restitution volkskirchlicher Strukturen nach 1945 zum Aufbau funktionaler Dienste und kirchlicher Projekte im Horizont einer schleichenden Erosion der Volkskirche

3.1. Die auf die Kerngemeinde ausgerichtete Restitution der Volkskirche nach 1945

Unmittelbar nach dem Ende der Kriegshandlungen im Ruhrgebiet während der Ostertage 1945 versuchen die Kirchenleitung und die Kirchengemeinden selbst, sehr rasch geordnete kirchliche Zustände wieder herzustellen. Je nach lokaler Situation werden entweder die DC-Presbyter durch die Zuwahl anderer Gemeindeglieder, die sich zur Bekennenden Kirche gehalten haben, ersetzt oder der gemeindliche Bruderrat konstituiert sich dort, wo ohnehin seit einigen Jahren keine regelmäßigen Presbyteriumssitzungen mehr stattgefunden haben, als das rechtmäßige Presbyterium. Das Bemühen der Presbyterien in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zielt zunächst auf den Wiederaufbau einer geregelten Gemeindearbeit, was unter den Bedingungen der Kriegszerstörung speziell im Ruhrgebiet außerordentlich schwierig gewesen ist.
Parallel zu dem Wiederaufbau der Gemeinden wird auch die Neuordnung der Kreissynoden in Angriff genommen. Ähnlich wie in den Gemeinden sind es auch auf dieser Ebene die Bruderräte, welche die vorläufigen Synoden weithin bestimmen. Die derart gebildeten vorläufigen Organe der Kirchenleitung konzentrieren sich zunächst auf eine rechtliche Neuordnung des kirchlichen Lebens, wobei dem presbyterial-synodalen Aufbau der rheinischen und der westfälischen Provinzialkirchen entsprechend dieser mit der Ebene der Presbyterien zu beginnen hat. Als entscheidender Schritt ist hier die bereits 1946 von der westfälischen Provinzialsynode erarbeitete, von Presbyterien und Kreissynoden verhandelte und schließlich von der Provinzialsynode verabschiedete Presbyterwahlordnung zu nennen, welche die Grundlage für die rechtlich begründete Bildung der weiteren synodalen Leitungsgremien bildet.
Die Presbyterwahlordnung ist von den Erfahrungen und der Theologie der Bekennenden Kirche geprägt, welche das Ideal der Bekenntnisgemeinde in den Mittelpunkt stellt. Deutlich erkennbar werden die Erfahrungen des Kirchenkampfs aufgenommen, insbesondere will man vermeiden, dass in ähnlicher Form, wie es den Deutschen Christen im Jahr 1933 gelungen ist, kirchenferne Gruppen in Presbyterien und Synoden eine Mehrheit erringen. Dementsprechend entwirft man eine Presbyterwahlordnung und darauf aufbauend eine Ordnung der Kirche, die sich ausgehend von der Sammlung der Gemeinde im Gottesdienst um Predigt und Sakramente konstituiert.
In diesem Sinn verfassen die westfälische und die rheinische Provinzialkirche im Jahr 1947 ein Proponendum für die Kreissynoden zum Thema „Die Verantwortung der Kirche für die Gestaltung des gottesdienstlichen Lebens“. Hier wird eindringlich der Gottesdienst als Versammlung der ganzen Gemeinde und als Zentrum aller kirchlichen Arbeit verstanden, da nur so „die Gemeindearbeit vor Zersplitterung und leerer Betriebsamkeit bewahrt“ bleibe. Mit dieser betonten Ausrichtung auf den Gottesdienst als der Versammlung der ganzen Gemeinde will man nicht allein ein theologisch-profiliertes Selbstverständnis vertreten, sondern gleichzeitig ein Gegenmodell zu den „Spaltungs- und Auflösungserscheinungen“ der Gesellschaft setzen.
Das sich in diesen Texten, welche die rechtliche Neuordnung der rheinischen und der westfälischen Kirche wesentlich geprägt und bestimmt haben, ausdrückende Ideal der Bekenntnisgemeinde, wie es sich während des Kirchenkampfes bewährt hat, wird nun für die veränderte Situation der Nachkriegszeit unmittelbar verbindlich gemacht. Einzelne kritische Stimmen – so geäußert auf der Bochumer Kreissynode von 1947 – sehen in der Konzentration auf die Kerngemeinde eine „Überspannung“ bzw. eine „gefährliche sektiererische Verengung“. Andere argumentieren pragmatischer und problematisieren die deutlich zu Tage tretende Differenzierung zwischen Gesamtgemeinde und Kerngemeinde, durch welche diejenigen Gemeindeglieder, die sich nicht im Sinne des Ideals der Bekenntnisgemeinde regelmäßig zum Gottesdienst halten, brüskiert werden können. Trotz solcher Kritik setzt sich mehrheitlich die auf die Kerngemeinde bezogene Restitution kirchlichen Lebens im Zuge der rechtlichen Neuordnung durch.
Im Zuge der Neuordnung des kirchlichen Lebens spielt ein Faktor, der vor 1933 im Ruhrgebiet von besonderer Bedeutung gewesen ist, nur noch eine untergeordnete Rolle: das kirchliche Vereinswesen. In den Kirchenordnungen werden Vereine als Randphänomene berücksichtigt, denen eine untergeordnete, auf die Gemeinde bezogene Funktion zugewiesen wird. Dort, wo das Vereinswesen – etwa im Bereich der Inneren Mission – eine hohe eigenständige Bedeutung hat, wird es stärker als bisher in kirchliche Bezüge hineingestellt. Die Wiederaufnahme einzelner Bereiche der Vereinsarbeit, so etwa die der evangelischen Arbeitervereine, bleibt weitgehend ohne Unterstützung der Pfarrerschaft und der Synoden und gelingt nur in eingeschränkter Weise. Auch in dieser Hinsicht lässt sich im Blick auf den Neuaufbau der evangelischen Kirche nach 1945 der Eindruck einer „Verkirchlichung“ kaum von der Hand weisen.

3.2. Die nachlassende Integrationskraft des Protestantismus seit dem Ende der 1950er Jahre

In den Jahren zwischen Kriegsende und 1960 wächst die Ruhrgebietsbevölkerung noch einmal so stark an wie zur Zeit der Hochindustrialisierung zwischen 1895 und 1910. Während die Ruhrgebietsbevölkerung während des Zweiten Weltkrieges zurückging und bei Kriegsende weniger als 4 Millionen Menschen hier gelebt haben, erreicht die Ruhrgebietsbevölkerung im Jahr 1960 mit 5,5 Millionen Menschen ihren Höhepunkt.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit sind es vor allem Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten gewesen, von denen ein beträchtlicher Teil hofft, sich im Ruhrgebiet ein neues Leben aufbauen zu können. Im Sommer 1947 befinden sich rund 600.000 Flüchtlinge aus den Ostgebieten im Ruhrgebiet, das ohnehin in überdurchschnittlicher Weise von den Kriegsfolgen betroffen gewesen ist. Entsprechend dramatisch gestalten sich die Lebens- und Wohnverhältnisse der Menschen, insbesondere der Flüchtlingsfamilien. Viele dieser Flüchtlinge, die in der Regel aus ländlichen Gebieten geflohen sind und eine starke kirchliche Bindung aufweisen, fällt der Neuanfang unter den Bedingungen des kriegszerstörten Ruhrgebietes sehr schwer.
Trotz der schwierigsten Zeitumstände, der unterschiedlichen lebensweltlichen Herkunft sowie deutlicher Mentalitätsdifferenzen ist es den Kirchengemeinden in der Nachkriegszeit in einem beträchtlichen Maße gelungen, Flüchtlinge und Einheimische in den Kirchengemeinden zu integrieren. An vereinzelten Orten sind auch im Ruhrgebiet stark von Flüchtlingen geprägte Wohngebiete und entsprechende Kirchengemeinden entstanden, deren kirchliches Leben sich jedoch recht bald an die Bedingungen des Ruhrgebiets angeglichen hat. Insbesondere für die Frauen bedeuten die kirchlichen Angebote – nicht zuletzt die Frauenhilfen, denen nach wie vor eine grundlegende Bedeutung in allen Gemeinden zugekommen ist – eine wichtige Hilfe für das Heimischwerden im Ruhrgebiet.
Neben den Flüchtlingen sind in den fünfziger Jahren erneut im großen Stil Arbeitskräfte für die Montanindustrie des Ruhrgebiets angeworben worden, die als die Schlüsselindustrien des deutschen Wirtschaftswunders erhebliche Wachstumsraten zu verzeichnen haben. Angesichts eines permanenten Arbeitskräftebedarfs werden seit 1955 auch ausländische Arbeitskräfte angeworben, zunächst aus Südeuropa, seit Anfang der 1960er Jahre auch aus der Türkei. Neben diesen Zuwanderern sorgt die demographische Entwicklung für den schnellen Bevölkerungsanstieg in den 1950er Jahren.
Wie bereits vor 1914 reagieren die Kirchen auf diesen Bevölkerungsanstieg damit, dass sie an dem Ideal überschaubarer Kirchengemeinden festhalten und dementsprechend durch Neugründungen auf den rapiden Bevölkerungsanstieg reagieren. Dementsprechend sind die 1950er und die frühen 1960er Jahre erneut durch eine Vielzahl von Gemeindeneugründungen im Ruhrgebiet und durch eine entsprechende Bautätigkeit der Kirchengemeinden im Umfeld eines forcierten Wieder- und Neuaufbaus der Städte geprägt.
Neben Kirchgebäuden sind in dieser Zeit insbesondere viele Gemeindehäuser, Jugendheime und auch Kindergärten gebaut worden. Die Gemeinden haben auf diese Weise versucht, ihre Angebote auszuweiten, um die Kontaktmöglichkeiten mit den Gemeindegliedern zu intensivieren. Bereits im Jahr 1954 werden nämlich erste Krisendiagnosen laut, die beklagen, dass „die übergreifende Mehrzahl der evangelisch Getauften ... ohne lebendige Beziehung zur Kirche lebt und ... am gottesdienstlichen Leben der Gemeinde keinen Anteil“ mehr nimmt. Für diese fehlende Integrationskraft der Kirchengemeinden wird die zunehmende „Vermassung“ der Gesellschaft verantwortlich gemacht, wie sie sich insbesondere im Industriegebiet immer stärker abzeichnet. Demgegenüber steht die Kirche vor der Aufgabe, die Ortsgemeinden zur Heimat der Christen werden zu lassen, indem die kirchliche Versorgung intensiviert werden soll. Um dies zu ermöglichen, hat die westfälische Landeskirche eine „Kirchliche Aufbauhilfe“ speziell für die Ruhrgebietsgemeinden ins Leben gerufen, um auf diese Weise einen innerkirchlichen Lastenausgleich herbeizuführen.
Nicht zuletzt dank der „Kirchlichen Aufbauhilfe“ gelingt es seit der Mitte der fünfziger Jahre, eine Vielzahl neuer kirchlicher Bauten im Ruhrgebiet zu realisieren. Die Kirchbauten jener Jahre sind dadurch gekennzeichnet, dass die Vorbilder der historistischen Sakralarchitektur, welche die Bauten um die Jahrhundertwende weitgehend bestimmt haben, vollständig aufgegeben werden. Die Kirchbauten der 1950er und 1960er Jahre sind durch einfache geometrische Formen gekennzeichnet und haben weitgehend die modernen Baumaterialien – vorrangig Stahl und Beton – verwendet. Die meisten der in jener Zeit gebauten Kirchen sind reine Sakralbauten, welche eine Distanz zur Alltagswelt kennzeichnet, die jedoch ebenso – symbolisiert häufig durch große Glasfenster – eine Öffnung zum alltäglichen Leben ausdrücken und auf diese Weise transparent und einladend wirken. Den Innenraum dieser Kirchen bestimmen weitgehend kubische Formen, wobei in unterschiedlicher Weise die theologische Zielbestimmung der Konstituierung der Gemeinde als Gemeinschaft zum Ausdruck kommen soll. Mit diesen Stilelementen sollen die neuen Kirchbauten das zentrale theologische Anliegen, die Schaffung von Heimat und gemeinschaftlicher Verbundenheit, fördern. Neben den Kirchbauten gewinnt in jener Zeit der Bau von Gemeindezentren eine immer größere Bedeutung und ersetzt zum Teil die Kirche. Indem die Funktionalität kirchlichen Bauens – vor allem seit den 1960er Jahren – immer mehr in den Mittelpunkt gestellt wird, sieht man das Gemeindezentrum als die Lösung an, die einerseits die Anforderungen des Zweckbaus für Gemeindeveranstaltungen am besten erfüllt, gleichzeitig aber auch für kirchliche Feiern und speziell für Gottesdienste genutzt werden kann.
Auch wenn sich die Kirchen somit organisatorisch und durch ihre bauliche Präsenz auf die Wandlungen der Zeit eingestellt haben, wird die schwindende Integrationskraft der Kirchen bereits Ende der 1950er Jahre immer deutlicher erkannt. Vor diesem Hintergrund ist das Proponendum der rheinischen Kirchenleitung aus dem Jahr 1959 „Was hat in den Gemeinden zu geschehen, damit sie den Aufgaben gerecht werden, die ihnen heute gestellt sind“ zu verstehen. Defizite der kirchlichen Präsenz werden selbstkritisch wahrgenommen und es beginnt eine erste Phase des Experimentierens und Suchens nach neuen Wegen der kirchlichen Arbeit. Einzelne Synoden fordern eine Rückbesinnung auf die missionarische Kompetenz der Kirche.
Im Kontext dieser Diskussionen wird erstmals die auf die Kerngemeinde zentrierte Neuordnung der Kirche nach 1945 in Frage gestellt, etwa wenn der Oberhausener Superintendent Munscheid in seinem Jahresbericht vor der Kreissynode von 1964 kritisch fragt, ob und inwieweit „unser parochiales Gemeindeleben bei der sich rapide wandelnden Gesellschaft noch irgendeine Verheißung“ habe. Hinter diesem Hinweis steht die seinerzeit intensiv geführte Diskussion um sog. „Paragemeinden“ bzw. funktionale kirchliche Dienste, bei denen es sich um neue Formen christlicher Gruppen und Gemeinschaftsbildung handelt, die sich z.T. nur kurz- oder mittelfristig auf Grund ähnlicher Lebenssituationen oder gemeinsamer Aufgaben in Politik und Gesellschaft bilden. Angesichts des Funktionsverlusts der Parochie, wie er insbesondere durch die fortschreitende Mobilisierung der Gesellschaft und auch durch den zunehmenden Einfluss massenmedialer Kommunikation hervorgerufen wird, sollen solche neuen Formen von Gemeinde über die Ortsgemeinde hinaus kirchliche Präsenz in der Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen.
Neben der Selbstkritik angesichts mangelnder Integrationsfähigkeit der Gemeinden werden auch in der Öffentlichkeit kirchenkritischere Stimmen seit der Endphase der 1950er Jahre immer lauter. So gerät die Kirche mit bestimmten kulturellen Trends in einen Konflikt, wie vor allem Auseinandersetzungen um Fragen der Jugendkultur und der Sexualität zeigen. Solche Konfliktlinien, verbunden mit der Infragestellung der kirchlichen Autorität für bestimmte Lebensbereiche, lassen den westfälischen Präses Ernst Wilm im Jahr 1964 davon sprechen, dass „die Schonzeit“ für die Kirche vorbei sei.
Im Ruhrgebiet sind ausgehend von den beginnenden Kirchenreformdiskussionen seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre verschiedene funktionale kirchliche Dienste entwickelt worden. So entsteht an manchen Orten eine neue Form kirchlicher Erwachsenenbildung, die sich etwa in Bochum zu einer eigenständigen evangelischen Stadtakademie und anderen vielbeachteten Formen kirchlicher Bildungs- und Beratungsarbeit entwickelt hat. Neben solchen Bildungs- und Beratungsangeboten hat sich im Ruhrgebiet bereits unmittelbar seit Kriegsende eine neue Form kirchlicher Präsenz in der Arbeitswelt herausgebildet, die – gemeinsam mit der katholischen Kirche entwickelt und durchgeführt – als „Gemeinsame Sozialarbeit der Konfessionen“ bis heute von Bedeutung ist.

3.3. Die öffentliche Verantwortung der Kirchen und der Aufbau arbeitsweltbezogener kirchlicher Dienste: Zur Entwicklung eines sozialethischen Profils des Ruhrgebietsprotestantismus

Der Aufbruch zu einer öffentlichen kirchlichen Verantwortung nach Kriegsende drückt sich auch darin aus, dass die rheinische und die westfälische Kirche bzw. ihre bereits 1946 neu gebildeten Sozialausschüsse sich intensiv mit wirtschaftlichen und sozialpolitischen Fragen befassen. Nach der Konstituierung der Bundesrepublik ist insbesondere die Frage der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Industrie heftig umstritten. Die evangelischen Landeskirchen versuchen, Arbeitsgeber wie Arbeitnehmer „auf ihre sittliche Verantwortung dem anderen Partner gegenüber wie für das gesamte Volk, mit größtem Nachdruck“ hinzuweisen. Als den wichtigsten christlichen Beitrag zur Gestaltung der Wirtschaft versteht man in dieser Perspektive die Wahrung der Menschlichkeit im Arbeitsleben. Engagiert macht man auf den Betrieb als soziales Gefüge aufmerksam und beschreibt eindringlich die Gefahren einer Degradierung des Menschen zum bloßen Produktions- und Kostenfaktor. Diese Überlegungen stehen schließlich auch im Mittelpunkt der auf dem Essener Kirchentag von 1950 bekannt gegebenen Ratserklärung der EKD zur Frage der Mitbestimmung, die das Ziel der Mitbestimmung darin gesehen hat, den sozialen Frieden zu sichern, ein gegenseitiges Verständnis der Tarifparteien zu wecken und das reine Lohnarbeitsverhältnis zu überwinden.
Mit solchen Stellungnahmen hat sich die evangelische Kirche in der Nachkriegszeit als Anwalt zur Verbesserung der sozialen Beziehungen im Arbeits- und Wirtschaftsgeschehen profiliert. Es dominiert dabei das Bemühen um den menschlichen Aspekt der Arbeitsgestaltung. Demgegenüber hat man die rechtliche Ausgestaltung etwa von Mitbestimmungsregelungen im Grundsatz zwar gefordert, die konkreten Forderungen der Gewerkschaftsbewegung aber nur bedingt aufgegriffen. Dementsprechend bleibt das Verhältnis zu den Gewerkschaften zunächst gespannt, während Unternehmer nach und nach den besonderen Beitrag der Kirchen zur Verbesserung der betrieblichen Beziehungen entdecken und die Kirchen zur Kooperation einladen. Dies gilt insbesondere für den Vorsitzenden der Deutschen Kohlenbergbauleitung, Heinrich Kost, der zum entscheidenden Anreger der „Gemeinsamen Sozialarbeit der Konfessionen“, einer ersten institutionalisierten kirchlich-pastoralen Begleitung der Arbeitswelt im Ruhrgebiet, geworden ist.
Deren Entstehung verdankt sich einer günstigen Konstellation: die von den Kirchen entwickelte Perspektive einer Verbesserung der menschlichen Zusammenarbeit in den Betrieben stößt gerade im Steinkohlenbergbau der Nachkriegszeit auf eine breite Resonanz, da sich dort aus verschiedenen Gründen Probleme im Blick auf das Betriebsklima häufen. Aufgrund der überragenden Bedeutung des Ruhrbergbaus für die wirtschaftliche Entwicklung im Nachkriegsdeutschland hat die Anzahl der beschäftigten Bergleute bereits Mitte 1947 den Vorkriegsstand von rund 350.000 Bergleuten übertroffen. Bereits Ende 1948 ist die Zahl auf über 400.000 angestiegen, um dann in den fünfziger Jahren moderat weiter anzusteigen. Diese Entwicklung der Beschäftigtenzahlen ist allerdings von einer überaus hohen Fluktuationsrate geprägt: so sind zwischen 1945 und 1954 insgesamt 800.000 Bergleute angeworben worden, von denen jedoch weniger als 200.000 auf Dauer im Bergbau geblieben sind. Auf diese Weise sinkt der Anteil der Stammbelegschaften einiger Schachtanlagen auf unter 20%, so dass relativ wenige erfahrene Bergleute die Belegschaften bilden. Es entwickeln sich zum Teil recht scharfe Spannungen zwischen den Alt- und den Neubergleuten: verschiedene bergbauliche Traditionen, wie etwa das Kameradschaftsgedinge, aber auch die recht starke parteipolitische und gewerkschaftliche Verankerung spielen für die Neubergleute zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Die Defizite des Betriebsklimas drücken sich neben der extrem hohen Fluktuation auf den Schachtanlagen in einer hohen Fehlschichtenquote aus, die Ende der vierziger Jahre bei 17 - 20% liegt.
Dieser Problemdruck sowie die tiefe persönliche Überzeugungen einer besonderen Verantwortung als Christ im Berufsleben lassen Heinrich Kost Kontakte zu den Kirchen im Ruhrgebiet suchen. Kost bittet für die Bergbautagung im Oktober 1948 Joseph Höffner, seinerzeit Professor am katholischen Priesterseminar in Trier, und den Hannoverschen Landesbischof Johannes Lilje um Referate und erhofft sich durch den Kontakt zu den beiden großen Kirchen Impulse für eine Verbesserung des menschlichen Miteinanders im Bergbau.
Nach dem positiven Eindruck der beiden Kirchenvertreter bemüht sich Kost um eine Vertiefung der Kontakte zwischen der Bergbauleitung und den Kirchen im Ruhrgebiet mit dem Ziel, einen breiten Diskussionsprozess anzuregen, der eine „Neue Sozialordnung“ im Bergbau entwickeln soll. Auf Seiten der westfälischen Kirche ist seit Anfang 1949 Klaus von Bismarck als Leiter des Sozialamtes in Schwerte-Villigst mit der „Betreuung der Bergarbeiterläger im Industriegebiet“ betraut. Sehr schnell ergibt sich ein Kontakt zu Franz Hengsbach, dem Leiter des Erzbischöflichen Seelsorgeamtes des Katholischen Sozialinstituts der Kommende. Durch Hengsbach vermittelt wird von Bismarck in die Kontakte zu Heinrich Kost einbezogen. Alle drei stimmen darin überein, dass die „Entscheidung über eine der wichtigsten Sozialfragen unserer Zeit, nämlich ob es gelingt, die arbeitsteilige Funktion in den industriellen Betrieben wieder menschlich zu gestalten und wieder eine gute Zusammenarbeit der Sozialpartner herbeizuführen, ... im Ruhrgebiet und vor allem in seiner wichtigsten Grundstoffindustrie, dem Kohlenbergbau“ fällt.
Im Herbst 1950 startet mit Tagungen in der Kommende und in Haus Villigst die Arbeit der „Gemeinsamen Sozialarbeit“. Es handelt sich um Gesprächstagungen unterschiedlicher Hierarchieebenen. Der Erfolg der GSA liegt wesentlich darin begründet, dass man sich in einer vorrangig pragmatischen Perspektive um eine Verbesserung der Kommunikation und der Zusammenarbeit in den Unternehmen bemüht. Dieser Intention liegt durchaus ein gesellschaftspolitisches Leitbild zugrunde: es ist dies die Idee der Sozialpartnerschaft, wie sie vor allem in der Sozialethik der beiden Kirchen in den fünfziger Jahren vertreten worden ist.
Für die Betroffenen sehr überraschend setzt mit dem Beginn der ersten Kohlenkrise im Jahr 1958 der Strukturwandel im Ruhrgebiet mit einem langandauernden Abschied von der Montanindustrie ein. Stehen in den 1960er Jahren zunächst die Zechenschließungen im Mittelpunkt öffentlicher Auseinandersetzungen, sind die 1970er und insbesondere die 1980er Jahre von dem dramatischen Rückgang der Arbeitsplätze in der Stahlindustrie bestimmt. Dieser Strukturwandel seit den frühen 1960er Jahren ist gegen den Widerstand der Belegschaften und der großen Mehrheit der Ruhrgebietsbevölkerung durchgesetzt worden. Dieser Wandel fordert von den betroffenen Menschen enorme Anpassungsleistungen und verursacht vielfach, insbesondere durch die Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit bei geringer qualifizierten Menschen, soziales Elend. Die durchschnittliche Ruhrgebietsbevölkerung trägt bis heute die Hauptlasten des Strukturwandels: den Zwang zum ständigen Lernen, die Nötigung, das Veralten von Wissen und technischen Fähigkeiten zu ertragen und vor allem die Freisetzung derer, deren Wissen und Qualifikationen auf dem Arbeitsplatz nicht mehr nachgefragt werden.
Die evangelische Kirche im Ruhrgebiet hat mit ihren institutionellen Möglichkeiten diesen Prozess des Wandels begleitet, sich für das Ruhrgebiet engagiert und dabei ihren Platz – so die Ruhrgebietssuperintendenten – „an der Seite der von diesen Prozessen verunsicherten Menschen“ gesehen. In den meisten Fällen haben sich bei angekündigten Zechenschließungen wie auch bei angedrohten Schließungen der Stahlwerke die Ortsgemeinden und ihre Pfarrer – zumeist auch die Kreissynoden – unmittelbar mit den von Betriebsschließungen bedrohten Belegschaften solidarisiert. Durch diese breite Unterstützung gelingt es den Belegschaften und den politisch Verantwortlichen, eine breite Öffentlichkeit auch über das Ruhrgebiet hinaus zu mobilisieren, um die Maßnahmen des Strukturwandels möglichst sozialverträglich zu gestalten.
Der Ruhrgebietsprotestantismus hat den Strukturwandel im Ruhrgebiet als Herausforderung begriffen und insbesondere den Verlierern der ökonomischen Wandlungsprozesse beizustehen versucht. Durch direkte diakonische Unterstützung, durch seelsorgerliche Betreuung und Beratung, durch öffentliches Engagement wie auch durch eigene Beiträge zum Strukturwandel hat der Ruhrgebietsprotestantismus seinen Beitrag zum Strukturwandel geleistet. Allerdings wird man kritisch einwenden können, dass die kirchlichen Stellungnahmen wie auch das kirchliche Handeln weitgehend von einer reaktiven Haltung bestimmt sind. In nahezu allen Fällen hat man auf die Wandlungsprozesse defensiv reagiert und sich dabei in der Regel für eine Sicherung des Bestehenden ausgesprochen. Ermutigungen, den Wandel positiv mitzugestalten finden sich dem gegenüber nur am Rande der entsprechenden Verlautbarungen.

3.4 Der Ruhrgebietsprotestantismus vor der Herausforderung einer kontinuierlich rückläufigen Mitgliederentwicklung

Während die Bevölkerungsentwicklung und damit auch die Mitgliederentwicklung der evangelischen Kirche im Ruhrgebiet seit dem Beginn der Industrialisierung bis in die 1960er Jahre hinein von einem starken, teilweisen rasanten Wachstum geprägt gewesen ist, verliert das Ruhrgebiet insgesamt, deutlich stärker jedoch der Protestantismus, seit 1970 kontinuierlich Menschen. Zählten zum Beispiel die Vereinigten Kirchenkreise Dortmund im Jahr 1980 noch ca. 365.000 Mitglieder, so sind es im Jahr 2000 nur noch rund 275.000 Menschen. Dortmund liegt prozentual gesehen an der Spitze der rückläufigen Mitgliederentwicklung: statistisch geht man derzeit von einer Minderung der Gemeindegliederzahlen von ca. 15% in einem Jahrzehnt aus. Ähnlich ist die Situation in den anderen Ruhrgebietskirchenkreisen, die gegenwärtig mit einem Mitgliederverlust von 10 – 14% pro Jahrzehnt rechnen. Innerhalb der Evangelischen Kirche von Westfalen zeichnet sich die generell rückläufige Mitgliederentwicklung in den Ruhrgebietssynoden am dramatischsten ab. Überblickt man den größeren Zeitraum von 1970 bis zur prognostizierten Entwicklung im Jahr 2015 ist durchschnittlich von einer Halbierung der Gemeindegliederzahlen im Ruhrgebiet auszugehen.
Für diese dramatische Entwicklung sind mehrere Faktoren ausschlaggebend. Bereits in den 1960er Jahren haben in allen Ruhrgebietssynoden die Zahlen der Kirchenaustritte diejenigen der Eintritte übertroffen. Seit den 1970er Jahren hat sich das negative Saldo von Austritten und Eintritten auf einem relativ hohem Niveau verfestigt, wobei insbesondere zu Beginn der 1970er und 1990er Jahre in hohem Maße Mitgliederverluste zu verzeichnen gewesen sind. Neben dieser abnehmenden Traditionsbindung sind aber auch allgemeine demographische Entwicklungen im Ruhrgebiet für den Mitgliederrückgang der evangelischen Kirche ausschlaggebend. Das Ruhrgebiet verliert seit den 1970er Jahren kontinuierlich Bevölkerungsanteile an das Umland. Ein weiterer Hauptgrund für die negative Mitgliederentwicklung sind die hohen Sterbeüberschüsse gegenüber den Geburten, welche die evangelische Kirche im Ruhrgebiet stärker als den Katholizismus und stärker als die ausländische Wohnbevölkerung trifft. Das Zusammenspiel dieser drei Faktoren verursacht die eingangs skizzierte dramatische Mitgliederentwicklung, welche die evangelische Kirche im Ruhrgebiet nach mehr als 150 Jahren des starken Bevölkerungs- und Mitgliederwachstums vor die völlig neue Herausforderung stellt, die in den letzten Jahrzehnten aufgebauten Gemeinde- und Verwaltungsstrukturen nunmehr der rückläufigen Entwicklung anzupassen. Dominierten in den Jahrzehnten zuvor Gemeindeneugründungen und Auspfarrungen, so kommt es nun darauf an, Gemeinden in einer möglichst organischen Weise zusammen zu legen und dabei nicht zuletzt auch kirchliche Gebäude aufzugeben.
Trotz dieses Mitgliederrückgangs und einer entsprechend negativen Finanzentwicklung ist der Ruhrgebietsprotestantismus nach wie vor von einer erstaunlichen Innovationsfähigkeit geprägt. Innovative Projekte werden insbesondere im Kulturbereich, in den Projekten zum gemeinsamen Leben mit ausländischen Mitbürgern sowie in der Diakonie entwickelt. Für diese Arbeitsfelder lassen sich jeweils herausgehobene Einzelprojekte mit einer größeren Ausstrahlungskraft anführen, jedoch auch eine Vielzahl alltäglicher, in der Lebenswelt der Menschen verwurzelter Initiativen, die, wenn auch nicht immer spektakulär, eine hohe Bedeutung für die Qualität des Zusammenlebens besitzen.
Die kirchlichen Kulturprojekte konzentrieren sich auf einzelne Innenstadtkirchen, die nicht mehr oder kaum noch von Gemeinden genutzt werden können und für die daher neue Nutzungskonzepte entwickelt werden. In der Essener Innenstadt ist es die Marktkirche, welche für die Stadtkirchenarbeit zur Verfügung steht. Schwerpunkt dieser Arbeit sind die Organisation von Kunstausstellungen, Konzerte sowie öffentliche Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen. In ähnlicher Weise wird in Bochum seit wenigen Jahren die zentrale Innenstadtkirche, die Christuskirche, genutzt. Seit dem Ruhrgebietskirchentag 1991 existiert im Kirchenkreis Dortmund-Mitte eine „Arbeitsstelle Kirche und Kultur“ , die seither thematische Projekte in Zusammenarbeit mit Künstlern, Kulturinstitutionen und freien Kulturträgern durchführt. Das Zentrum der Arbeit ist die alte gotische Stadtkirche St. Petri, wo Ausstellungen veranstaltet oder auch moderne Formen des Tanztheaters inszeniert werden. Ein besonderer Reiz dieser Veranstaltungen liegt darin, dass hier bewusst der Dialog einer von der Kirche emanzipierten Kunst mit einem sakral bestimmten Raum gesucht wird. Solche Veranstaltungen sind nicht unumstritten geblieben und haben – so an der Dortmunder Petrikirche – die vollständige Aufgabe der Kirche durch die Ortsgemeinde provoziert. An anderen Orten, etwa in der Melanchthon-Kirche in Bochum, gelingt es, das komplexe Beziehungsgefüge von sakralem Gottesdienstraum, modernen künstlerischen Inszenierungen und der den Gottesdienst feiernden Gemeinde in eine produktive Balance zu bringen.
Neben solchen ambitionierten Kulturprojekten sind in den letzten Jahren speziell im Bereich neuerer Kirchenmusik eine Vielzahl von Initiativen entstanden, die gemeindenah Menschen zur aktiven Mitarbeit motivieren. Beispielhaft kann hier das Projekt „Creative Kirche“ im Kirchenkreis Hattingen-Witten genannt werden, das durch die Gründung mehrerer Chöre – vor allem im Bereich der Gospelmusik – und die Entwicklung neuer Gottesdienstformen zu einer festen Größe im Leben des Kirchenkreises geworden ist. Die positive Resonanz dieses und ähnlicher Projekte hat zu einer regelrechten Gospelchorbewegung im Ruhrgebiet geführt, wie sie im September 2002 durch den Gospelkirchentag in Essen auch für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar geworden ist.
In der traditionellen Einwanderungsregion des Ruhrgebiets besteht eine lange Tradition des Umgangs mit Fremden im Zeichen des Bemühens um Integration. Eine neue Herausforderung für die Integration stellen die seit 1955 angeworbenen Gastarbeiter dar, nicht zuletzt die seit 1961 aus der Türkei und seit 1965 aus Tunesien und Marokko angeworbenen Arbeitsmigranten muslimischen Glaubens. Der ausländische Bevölkerungsanteil beträgt z.B. in Duisburg mehr als 15%, in den übrigen großen Städten des Ruhrgebiets liegt diese Rate zwischen 11 und 14%. Knapp 40% von ihnen sind Muslime, wobei die lokale Verteilung höchst ungleich ist und in einzelnen Ruhrgebietsgemeinden der Anteil der muslimischen Bevölkerung bei knapp 50% liegt, so etwa in Duisburg-Marxloh oder in bestimmten Stadtteilen des Dortmunder Nordens. Diese Situation hat vereinzelt zu Konflikten, aber auch zu einer Vielzahl von christlich-muslimischen Begegnungsinitiativen im Ruhrgebiet geführt. Auslöser öffentlichkeitswirksamer Konflikte ist an verschiedenen Orten der Wunsch eines Moscheevereinswesen gewesen, den lautsprecherverstärkten islamischen Gebetsruf – den sog. Azan-Ruf – einzuführen. Häufig haben sich verschiedene Bürgerinitiativen, z. T. politische Parteien und in einem Fall auch eine evangelische Kirchengemeinde öffentlich gegen diesen Wunsch ausgesprochen. Das Presbyterium der evangelischen Kirchengemeinde Duisburg-Laar hat Anfang 1997 mit einer Anzeige „Kein öffentlicher islamischer Gebetsruf“ in verschiedenen Zeitungen gegen den Gebetsruf mobil gemacht und in scharfer Weise die Differenz zwischen Christen und Muslimen herausgestellt. Allerdings bleiben solche Voten eindeutige Ausnahmen, während die kirchenleitenden Gremien Verständigungsbereitschaft im Dialog mit Moscheevereinen und Toleranz gegenüber Andersgläubigen einfordern. Auf der Ebene vieler Kirchengemeinden wird diese Haltung praktiziert, an verschiedenen Orten ist darüber hinaus ein intensives christliches-islamisches Dialogprogramm entstanden. In Marl existiert seit 1985 eine christlich-islamische Arbeitsgemeinschaft, die gemeinsame sozialpolitische Anliegen der Bevölkerung thematisiert, darüber hinaus jedoch auch christlich-islamische Feiern und vor allem eine Würdigung der Feste der beiden Religionen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt. Bei diesen Veranstaltungen werden insbesondere die Gemeinsamkeiten der abrahamitischen Religionen herausgestellt, um ein gemeinsames Zusammenleben und Zusammenarbeiten in der alltäglichen Lebenswelt zu fördern. Ohne die Unterschiede zwischen den Religionen zu verwischen, sollen beide Seiten die religiösen Traditionen des anderen besser kennen und tolerieren lernen. Allerdings muss, trotz verschiedener Beispiele solcher christlich-muslimischen Dialogbemühungen, einschränkend festgehalten werden, dass nach wie vor ein unverbindliches Nebeneinander und eine Distanz das Verhältnis von evangelischen Kirchengemeinden und islamischen Moscheegemeinden in der alltäglichen Lebenswelt prägt.
In besonderer Weise ist schließlich die Diakonie von den ökonomischen und sozialkulturellen Wandlungsprozessen des Ruhrgebiets betroffen. Neben dem bereits erwähnten neuen Aufgabenfeld der Hilfen für Arbeitslose, die sich von Beratungs- und Qualifizierungsangeboten bis hin zur Trägerschaft für Einrichtungen des zweiten Arbeitsmarktes erstreckt, ist seit den 1970er Jahren vor allem auch der Kernbereich diakonischer Arbeit auf der Gemeindeebene vor völlig neue Herausforderungen gestellt worden. Die klassische Form der Gemeindediakonie, wie sie seit dem 19. Jahrhundert durch Diakonissen getragen worden ist, gerät spätestens in den 1960er Jahren in eine tiefe Existenzkrise. Seit jener Zeit haben sich nur noch wenige Frauen für das Diakonissenamt entschieden. So sind zu Beginn der siebziger Jahre im Bereich des Gemeindeverbandes Bottrop nur noch drei ältere Gemeindeschwestern tätig gewesen, welche die Versorgung kranker und pflegebedürftiger Menschen im häuslichen Bereich nicht in ausreichender Weise haben gewährleisten können. Da die Situation in nahezu allen Ruhrgebietssynoden sehr ähnlich gewesen ist, hat sich seit Mitte der 1970er Jahre eine völlige Neuordnung der Gemeindepflege – nicht allein im Ruhrgebiet, sondern im gesamten Bereich der evangelischen Landeskirchen – entwickelt, die sich auf den Aufbau von Diakoniestationen konzentriert hat. Mit Hilfe der Diakoniestationen versucht man, kranken- und sozialpflegerische Dienste in einer überschaubaren Region zu bündeln und diese Arbeitsbereiche professionell zu organisieren.
Angesichts der demographischen Situation im Ruhrgebiet kommt schließlich dem Bereich der diakonischen Altenarbeit eine zunehmende Bedeutung zu. Neben den traditionellen Pflegeheimen sind speziell in den letzten zehn Jahren für immer mehr ältere Menschen, die einerseits durch die Hilfen der Diakoniestationen allein nicht mehr versorgt werden können, die aber andererseits noch eine weitgehend selbständige Lebensführung aufrechterhalten wollen, verschiedene Formen „betreuten Wohnens“ entwickelt und realisiert worden. Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Gründung solcher Wohnprojekte ist die Beobachtung gewesen, dass die älteren Menschen in der Regel ihre vertraute Umgebung nicht verlassen möchten. Dementsprechend bemüht sich die Diakonie darum, neue Formen diakonischer Altenarbeit zu entwickeln, welche den einzelnen ein weitgehendes Recht auf Privatsphäre und Selbstbestimmung einräumen. Wegweisend ist ein Projekt in Mülheim geworden, das eine Anlage für altengerechtes Wohnen mit Wohnungen für behinderte Menschen und Familien mit Kindern in einer architektonisch sehr ansprechende Gestaltung verbindet. Der integrative Aspekt dieser Wohnform, der Kontakte zwischen Menschen unterschiedlicher Lebenssituationen ermöglicht, sowie die Überschaubarkeit der Anlage haben bei allen Beteiligten für eine hohe Akzeptanz gesorgt.

Ausblick

Wie dieser kurze Überblick über neuere Formen kirchlicher Kultur-, Integrations- und Diakonieprojekte zeigt, werden in den Gemeinden und Kirchenkreisen des Ruhrgebiets allgemeine kirchliche und gesellschaftliche Herausforderungen aufgegriffen und es wird nicht zuletzt durch besondere Initiativen auf die speziellen Herausforderungen des alltäglichen Lebens im Ruhrgebiet reagiert. Beispielhaft ist für die meisten dieser Initiativen die Form des Projektes. Projekte leben von der aktiven Beteiligung der Betroffenen, sind zeitlich häufig begrenzt und durch eine klare thematische Fokussierung bestimmt. Daher sind diese Projekte in besonderer Weise mit der Aufgabe einer inhaltlichen Selbstklärung konfrontiert. Dabei ist insbesondere der Zusammenhang mit den anderen Handlungsformen der Kirche zu klären, um die Angebotsstruktur sowie die Erwartungen und Bedürfnisse der Gemeindeglieder aufeinander beziehen zu können. Es besteht vor allem in einem Ballungsgebiet wie dem Ruhrgebiet die große Chance, durch eine regionale Profilbildung die einzelnen Projekte und Reforminitiativen je nach Bevölkerungssituation und sozialstruktureller Entwicklung zu bündeln. Einen ersten Schritt in diese Richtung hat der Kirchenkreis Dortmund-West gewagt, der eine Analyse der Bevölkerungsstruktur, deren Erwartungen sowie die derzeitigen Schwerpunkte in den Gemeinden abgeglichen hat, um auf dieser Basis die Stärken des Angebots, aber auch Defizite zu erheben und darauf durch neue Angebote reagieren zu können. Auf der Grundlage dieser Analysen haben sich als neue Aufgabenschwerpunkte die Arbeit mit 30- bis 50jährigen sowie die Errichtung eines Trauerzentrums ergeben, die jeweils durch Schwerpunktpfarrstellen unterstützt werden.
Die Herausbildung einer „Projektkirche“ markiert die jüngste Etappe der Transformationsprozesse des Ruhrgebietsprotestantismus. Die Projektstruktur ist der gegenwärtig überzeugendste Versuch, auf die strukturellen, sozialkulturellen und demographischen Wandlungen des Ruhrgebiets adäquat zu reagieren. Trotz der Erosionserscheinungen bleibt die volkskirchliche Struktur der notwenidge Rahmen und auch das Bezugsfeld dieser Projekte. Es ist zu hoffen, dass die Erfahrungen der Projektkirche den volkskirchlichen Strukturen neue Impulse vermitteln und mittelfristig neuartige Formen kirchlicher Präsenz in der Region des Ruhrgebiets institutionalisieren.

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